DRAMA: A/D/F, 2022
Regie: Marie Kreutzer
Darsteller: Vicky Krieps, Florian Teichtmeister, Colin Morgan, Finnegan Oldfield
Schicksalsjahre einer Kaiserin. Aber anders als erwartet.
"How to disappear completely" heißt ein Song von Radiohead. Er könnte auch als Tagline unter diesem Film stehen. Ein Film über eine Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht, als zu verschwinden. Aus einem in Ritualen erstarrten Leben, in dem das titelgebende Korsett zum Sinnbild für Einengung, Zwang und Fremdbestimmung wird.
Kaiserin von Österreich-Ungarn, das klingt glamourös, die berüchtigte Sissi-Trilogie aus der Nachkriegszeit hat die bunt-verkitschten Bilder der jugendlichen Kaiserin im kollektiven Unterbewusstsein verankert. Und das weltweit. Selbst im fernen China wurde dem Autor dieser Zeilen versichert: "Everybody in China loves Sissi."
Na fein.
In Wahrheit war der politische Einfluss der Kaiserin gleich null, die ihr zugedachte Rolle war rein repräsentativ. Also "angestarrt werden", wie sie es im Film ausdrückt.
Corsage von Regisseurin Marie Kreutzer fokussiert auf die späten Jahre der Kaiserin. Mit 40 hat sie die durchschnittliche Lebenserwartung ihrer Untertanen bereits überschritten - eine unachtsame Bemerkung, die ihr Arzt noch in der Sekunde bereut. Später wird er ihr eine neuartige Medizin namens Heroin gegen die körperlichen Schmerzen verschreiben ("Das ist vollkommen harmlos"). Doch gegen die Rastlosigkeit, die Unruhe, die seelischen Schmerzen ist er machtlos.
Man merkt vielleicht: Dies ist keine süße Prinzessinnengeschichte. Es geht - ganz zeitgemäß - um Mental Health-Issues, um verschrobene Sexualität, mit stellenweise durchaus "argen", expliziten Szenen.
"Der Arme", kommentiert eine Dame in der Sitzreihe hinter mir eine - nennen wir sie mal - erotikähnliche Zusammenkunft zwischen Kaiserin und Kaiser, von der er nachher bestimmt nicht sagen wird, dass es sehr schön war und es ihn sehr gefreut hat.
Der Film ist stimmungsmäßig näher dran an radikalen französischen Kunstfilmen wie Nachtblende oder Swimming Pool, mit denen sich Romy Schneider von dem ihr verhassten Sissi-Image freigespielt hatte, als an den legendären österreichischen Nachkriegs-Filmen, die offenbar die halbe Welt gesehen hat.
Die Inszenierung ist kühl, aber höchst elegant. Dass der Film sich - gelinde gesagt - die eine oder andere erzählerische Freiheit herausnimmt, mag für manche möglicherweise zum Problem werden. Fakt und Fiktion vermischen sich immer stärker, und am Ende erzählt Corsage nicht von dem, was war, sondern was hätte sein können. "All that could have been" heißt ein Song von Nine Inch Nails. Den hören wir hier natürlich nicht, aber nach dem sehr freien, in alle möglichen Richtungen interpretierbaren Finale gibt's ein Gänsehautlied von Soap & Skin, während der Abspann läuft und Elisabeth mit einem vermutlich aus Diversitätsgründen aufgeklebten Schnurrbart tanzt. Und den grünen Traktor muss mir bitte jemand erklären. Aber seht selbst.
Zugegeben: Prinzessinnenschicksale interessieren mich nur sehr peripher. Aber darum geht es nicht. Diesem Film eilt ein hervorragender Ruf voraus - der einzige österreichische Beitrag zum 74. Filmfestival von Cannes. Es gab Standing Ovations und einen mehr als verdienten Darstellerinnenpreis für Vicky Krieps, bekannt unter anderem aus Paul Thomas Andersons Fashion-Drama Phantom Thread. Der Film dekonstruiert den Sissi-Mythos in eleganten, unterkühlten Bildern. Strenges Korsett, strenges Kino mit einigen argen Momenten, das Fakt und Fiktion nach Belieben mischt. Gut möglich, dass man damit der echten Elisabeth sogar näher kommt. Meine ausdrückliche Empfehlung.
In diesem Sinne: "Es geht zu Ende mit der Monarchie."