EXZESSIVER TANZABEND: F, 2018
Regie: Gaspar Noé
Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Smile Kiddy
Es sollte ein entspannter Abend werden. Vor dem Aufbruch zu ihrer Tournee versammelt sich eine Tanzkompanie zu einem Partyabend. Die Beats wummern, die Stimmung ist ausgelassen, jeder zeigt, was er kann. Dass der Sangria komisch schmeckt, fällt erstmal nicht weiter auf. Bis die ersten Tänzer beginnen, sich seltsam zu fühlen. Und dann bricht sukzessive die Hölle los ...
"Blurred vision and dirty thoughts
Feel out of place, very distraught
Feel something coming on
It feels like somebody put something
Somebody put something in my drink"
Ramones - "Somebody put something in my drink"
Am Anfang stellt uns Regie-Extremist Gaspar Noe (IRREVERSIBEL, MENSCHENFEIND, ENTER THE VOID, LOVE) die Tänzerinnen und Tänzer vor: Auf einem Röhrenfernseher - der Film spielt im Jahr 1996 - flimmern Interview-Videos auf VHS, wo die jungen Frauen und Männer erklären, warum Tanzen für sie das Größte ist. Links neben dem Fernseher hat Gaspar Noé einen Bücherstapel drapiert, rechts Videokasetten von seinen Lieblingsfilmen: DAWN OF THE DEAD, SUSPIRIA, POSSESSION und viele andere. Man ahnt bereits, worauf das Ganze hinauslaufen wird.
Doch bis der Wahnsinn losbricht, lässt sich Gaspar Noé alle Zeit der Welt. Und das ist gut so. Ich verstehe wenig bis gar nichts von Tanz, aber das, was hier geboten wird, musikalisch, filmisch und natürlich tänzerisch, ist schwer beeindruckend. Fulminant choreographiertes Körperkino, sexy, sinnlich, energetisch, euphorisierend. Flackerndes Licht, zuckende Körper, hämmernde Beats, dem Gartenbaukino sei Dank auch in angemessener Lautstärke. Wäre CLIMAX in der Tonart weiter gegangen, als psychedelischer Party/Sex/Orgien-Film, wie Gaspar Noés geiler Videoclip "Protege moi" für Placebo in Spielfilmlänge, es wäre ein Spitzenfilm geworden. Der geile Höhepunkt der Kinojahres.
Aber CLIMAX hat noch eine zweite Hälfte. Irgendjemand hat irgendein Zeug in den Sangria gemixt. Schrittweise verlieren die Tänzer den Verstand, bis sich alle gegenseitig an die Gurgel gehen. Den kollektiven Kontrollverlust inszeniert Gaspar Noé, wie man es von ihm erwartet: Fast schon grotesk exzessiv. Wobei die Szenen mit dem Kind tatsächlich schwer an die Nieren gehen. Das hysterische Gebrüll und die Gewaltexzesse zerren an den Nerven. Aber nicht unbedingt im Sinne einer transgressiven Kinoerfahrung. Sondern sprichwörtlich. Ich geniere mich fast, das so hinzuschreiben, aber zum ersten Mal fühle ich mich von einem Gaspar Noé-Film tatsächlich ein wenig genervt.
Aber lassen wir den Meister seine Arbeitsweise selbst erkären: Tänzer sind sehr "cleane" Menschen, ihr Körper muss gut in Form sein. Am Set gab es weder Alkohol noch Drogen. Also entschloss ich mich, eine Art zweistündiges Trainingsvideo zusammenzuschneiden. Ich durchsuchte das Internet nach den besten Clips von Menschen auf LSD, Ecstasy und Crack. Dazu Videos aus psychiatrischen Anstalten, von Hysterie-Anfällen und Home-Videos von völlig besoffenen Menschen. Das waren zwei Stunden blanker Horror-Spaß. Das habe ich den Tänzern dann zur Inspiration gezeigt, und sie durften sich aussuchen, was für eine Art von Figur sie in der zweiten Hälfte des Films sein wollten. Ob Schreiattacken, nackt herumlaufen oder epileptische Anfälle zu bekommen, alles war möglich. Sie waren sehr gespannt darauf, so zu tun, als würden sie hemmungslos die Kontrolle verlieren. Am Anfang des Films sind sie so süß, dann werden sie zu psychotischen Tieren (lacht).
Quelle: Interview auf spiegel.de
Nicht alle fanden das so lustig. Facebook-Freund Paul erzählt mir, dass bei der Viennale-Vorstellung ein junger Mann neben ihm real ohnmächtig wurde. In meiner Vorstellung gab's zwar keine Zusammenbrüche. Dafür hat jemand am Boden seinen Schlüssel oder irgendwas anderes wichtiges gesucht - synchron zur Choreographin auf der Leinwand, die ebenfalls verzweifelt einen Schlüssel suchte. Auch ziemlich spooky.
In seinem fünften Kinofilm zeigt Regie-Grenzgänger Gaspar Noé, warum LSD im Sangria keine gute Idee ist: Euphorisierendes, fulminant choreographiertes Körperkino in der ersten Hälfte, fast schon grotesk exzessiver Psycho-Horrortrip in der zweiten. Too much, wenn ihr mich fragt. Was für ein geiler Film CLIMAX hätte werden können, wird deutlich, wenn man sich mal wieder seinen Videoclip zu Placebos "Protege moi" ansieht.