HORROR: USA, 2012
Regie: Brad Parker
Darsteller: Devin Kelley, Jesse McCartney, Jonathan Sadowski, Olivia Dudley
Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl Mitte der Achtziger Jahre mussten die Bewohner der nun kontaminierten Arbeiterstadt Pripyat ihre Häuser fluchtartig verlassen. Fünfundzwanzig Jahre später besuchen sechs amerikanische Touristen und ihr russischer Reiseführer die immer noch verlassene Geisterstadt. Als sie den unheimlichen, desolaten Ort verlassen wollen, finden sie ihren Bus fahruntüchtig vor. Und bald darauf müssen sie feststellen, dass Pripyat mitnichten verlassen ist. In den Ruinen lauert weit Schlimmeres als streunende Hunde und radioaktive Strahlung ...
Die CHERNOBYL DIARIES wurden erdacht und geschrieben von Oren Peli, seines Zeichens auch der Macher der kommerziell äußerst erfolgreichen PARANORMAL ACTIVITY-Reihe, deren bisherigen 4 Teile es allesamt in die deutschen Kinos geschafft haben. Ich persönlich habe allerdings schon nach der ersten PARANORMALEN Begegnung die Segel gestrichen. Der mit viel Fan- und Kritiklorbeeren überhäufte originale PARANORMAL ACTIVITY hat bei mir eine hohe Erwartungshaltung geweckt, die er nicht im Ansatz erfüllen konnte. So habe ich mir von Pelis anderem "Kind", dem übrigens bei Fans und Kritikern mehrheitlich durchgefallenen CHERNOBYL DIARIES kaum noch etwas erhofft; wurde allerdings angenehm überrascht.
Peli überließ diesmal den Regiestuhl dem jungen Brad Parker. Der hat aus Pelis Skript einen achtbaren Horrorfilm gezaubert, der allerdings bislang etwas unter Wert rezipiert wird. Freilich erfindet hier niemand das Genre-Rad neu. Die Story des mit Digital Video in einem pseudo-authentischen, aber im Kontext passenden Stil gedrehte Film, der allerdings (Danke! Danke! Danke!) keiner dieser mittlerweile inflationären Found Footage-Flicks ist, kennt einige Referenzen. Mehr oder weniger liegen THE HILLS HAVE EYES, THE DESCENT und auch ohne ständige Wackelkamera das unvermeidliche BLAIR WITCH PROJECT auf der Hand. Dazu noch ein paar Dutzend anderer Terror-Flicks, die schon ähnliche Szenarien durchgespielt haben.
Dennoch gewinnen die CHERNOBYL DIARIES gerade wegen ihres tragisch-realen Schauplatzes - nämlich das verlassene (Nuklear-)Katastrophengebiet Pripyat bei Tschernobyl- erheblich an Profil. Gedreht wurde zwar nicht am Originalschauplatz, aber auf dem Balkan fand sich eine namenlose, gottverlassene Ortschaft, die sich in puncto Geisterstadt-Tristesse als absolut ebenbürtig erweist.
Die Trostlosigkeit einer von ihren Bewohnern fluchtartige verlassene Arbeitersiedlung ist allgegenwärtig. Zwischen Hochhausschluchten und toten Wäldern: Stilles, kontaminiertes Ödland. Verschmutzte Flüsse. Ein altes, verrostetes Riesenrad. Die scheinbare Abstinenz jedes menschlichen Lebens. Das alarmierend lauter werdende Knacken des Geiger-Zählers. Ein gefährlich aus dem Gleichgewicht gebrachter Naturkreislauf. Das hat etwas Post-Apokalyptisches an sich. Das ist wie ein kalter Gruß aus Fukushima.
Vor allem dank dieser atmosphärischen Kulisse aus Isolation und Desolation blüht CHERNOBYL DIARIES auf. Bei einem solch bedrückend-gewaltigen Schauplatz funktioniert natürlich auch der alte Kniff, die Bedrohung lange schemenhaft, aber dennoch absolut tödlich wirken zu lassen, nur umso besser.
Die schattenhafte Gefahr ist effizient; auch wenn man freilich weder Kernphysik noch Nukleartechnologie studiert haben muss, um sich ausmalen zu können, wer oder was in dem längst nicht so verlassenen Pripyat sein Unwesen treibt. Trotzdem gibt Parker seiner Hauptattraktion (des Grauens) lange kein Gesicht und dem Zuschauer damit länger Gelegenheit zum Spekulieren, während es unsere Katastrophentouristengruppe in der betont lebensfeindlichen Umgebung längst mit anderer Unbill zu tun bekommt. Mutantenfische, wilde Hunde sowie radioaktive Strahlung sorgen nicht nur für Abwechslung, sondern auch dafür, dass die Protagonisten ihrem isolierten, kontaminierten Gefängnis -wenn überhaupt- nicht so einfach entkommen können.
Jedoch hätte man auf diese unvermeidliche, aber zu allem Überfluß noch extra kitschig geratene Found Footage-Einlage, in welcher einer der Protagonisten angesichts des drohenden Todes seiner Holden noch einen Verlobungsring überreicht, besser verzichtet. Glücklicherweise dauert diese gründlich mißlungene Sequenz nur kurz an und bleibt somit nur ein vorübergehendes Ärgernis in einem ansonsten schnörkellos inszenierten Terrorflick.
Entgegen vieler Unkenrufe hat Brad Parker meiner Meinung nach ein mehr als ordentliches Debüt abgeliefert. Die CHERNOBYL DIARIES versprühen zwar nicht gerade Filigranz, doch bieten sie zweckdienliche Spannung bis zum letzten bitteren Eintrag.
Allerdings sollte niemand eine solch verstörende Tour de Force wie beim HÜGEL DER BLUTIGEN AUGEN oder den schieren Terror eines THE DESCENT erwarten. Die Intensität der genannten Referenzwerke erreicht Parkers Erstling trotz Atmosphärenplus, einiger gelungener Schockmomente und mindestens einem fetten Jump Scare nun doch nicht. Und auch nicht deren Gore-Pegel. Blutwurstliebhaber, die ihre Cravens, Ajas oder Marshalls gerade wegen ihrem Hang zur graphischen Gewaltdarstellung verehren, werden in dieser Hinsicht wohl enttäuscht werden. Die FSK 16-Freigabe kommt nicht von ungefähr. Meistens splattert es im Off. Was einem Bluthund eventuell das Futter verhageln könnte, tut der Grimmigkeit der CHERNOBYL DIARIES keinen wirklichen Abbruch.
Zwar belässt Parker Kutteln und Gore vornehmlich beim Metzger, doch versteht er sich dennoch auf die Kunst der geschickten Andeutung. So laufen manche harten Szenen in der Phantasie weiter, obwohl die Kamera längst weggeblendet hat. In diesem Fall ist weniger vielleicht nicht zwingend mehr, aber auf jeden Fall genug. Ich habe den kurzweiligen und bisweilen recht grimmigen Abstecher in den nuklearen Sperrbezirk jedenfalls nicht bereut.
Osteuropa ist kein gesundes Pflaster für amerikanische Touristen. Diesmal lassen sie ihr Leben zwar nicht in irgendwelchen obskuren Folter- und Gore-Herbergen, aber dafür in der seit dem Reaktorunglück in Tschernobyl verlassenen und kontaminierten Geisterstadt Pripyat. Gesponsort wurde der fatale Kurztrip vom PARANORMAL ACTIVITY-Reisebüro. Gedreht wurde in einer echten Geisterstadt; was dieser überraschend spannenden Kreuzung aus THE HILLS HAVE EYES und THE DESCENT ein besonderes endzeitliches Flair gibt. Auch wenn die genannten Referenzen Herr im Haus bleiben und Splatterfans eher nicht auf ihre Kosten kommen, weiß Brad Parkers Filmdebüt mit einigen gelungenen Terror-Momenten und vor allem dank seiner beklemmenden Schauplätze zu überzeugen. Das reicht zu knappen, aber in meinen Augen nicht unverdienten