OT: Napoli Violenta
POLIZIOTTESCO: ITALIEN, 1976
Regie: Umberto Lenzi
Darsteller: Maurizio Merli, Elio Zamuto, John Saxon, Barry Sullivan
Kommissar Betti (Maurizio Merli) kehrt nach längerer Abwesenheit in den Großstadtmoloch Neapel zurück. Eine Verschnaufpause wird im nicht gegönnt. Umgehend ist er mit dem alltäglichen Panoptikum einer überbordenden Gewaltkriminalität konfrontiert. Neben "leichteren" Delikten wie Schmuckdiebstählen und Schutzgelderpressungen, sowie einer üblen Vergewaltigung, bei der das Opfer nur knapp aber zumindest doch überlebt, macht ihm eine Reihe von brutalen Banküberfällen zu schaffen, die offenbar immer von derselben Bande verübt werden. Und dann ist da noch der unbarmherzige Pate der Stadt, der "Commandante" (Barry Sullivan), bei dem die Fäden zusammenlaufen, und den Betti um jeden Preis zur Strecke bringen will.
"Napoli Violenta", so der Originaltitel dieses Reißers, stellt eine der Glanzleistungen des im Genre des italienischen Polizeifilms besonders versierten Regisseurs Umberto Lenzi dar. Die genretypischen Ingredienzien sind hier so vollzählig und exemplarisch versammelt, dass der Film quasi als Lehrbeispiel dafür dienen könnte, was der Uninitiierte von einem Poliziottesco anno 76 erwarten darf.
Wir haben Maurizio "Kommissar Eisen" Merli in Hochform an Bord, den Archetypen des beinharten, kompromisslosen Bullen mit der lockeren Faust. Wir dürfen die episodenhafte, nur durch einen marginalen Rahmenplot locker zusammengehaltene Handlung bewundern, die Raum lässt für unzählige größere und kleinere Sequenzen, die uns die ganze Bandbreite des kriminellen Treibens von Neapel ungeschönt vor Augen führen.
Wir haben eine latent gewalttätige, zynische und oftmals menschenverachtende Grundstimmung, die immer wieder mal von intensiven Brutalitäten gekrönt wird, wie sie zur damaligen Zeit wohl in keinem anderen Generekino zu "bewundern" waren. (Ich sage nur: Spitzel-Exekution durch eine Bowlingkugel oder ungeplanter Luftröhrenschnitt per angespitztem Eisenpfahl, brrr). Wir haben mit amerikanischen B-Movie-Schauspielern in zentralen Charakterrollen (Sullivan, Saxon) die üblichen Verdächtigen, die mit einem bezahlten Ausflug nach Italien in 4, 5 Tagen Drehzeit ihr Konto etwas aufbesserten oder für die Rente vorsorgten. Wir haben die unvergleichlichen location shots einer rauen italienischen Metropole Mitte der Siebziger. Und all das wird toll untermalt von einem Hammerscore aus der Feder Franco Micalizzis. Herz, was willst Du mehr!
Leider haben wir aber auch - eine beliebte Unsitte in diesem Genre - einen nervigen Kinderdarsteller (Massimo Deda), der als comic relief dienen und dem Zuseher sowie Betti praktisch veranschaulichen soll, was die allgegenwärtige Kriminalität mit Unschuldigen anstellt, der aber in der Praxis nur bei jedem Auftauchen das höllische Tempo des Films ausbremst. Gott sei Dank halten sich seine Auftritte in Grenzen. Das Balg schafft es sogar, den Film zu überleben, mehr noch: in der ein Jahr später gedrehten Quasi-Fortsetzung NAPOLI SPARA durfte er dieselbe Figur noch einmal spielen. Nur dem beherzten Eingreifen des grimmigen Henry Silva ist es zu verdanken, dass er dort jedoch auf einem Bahngleis unschön das Zeitliche segnet. Soviel zum einzigen Wermutstropfen in einem ansonsten fast makellosen Oeuvre.
Der Film besticht durch eine unglaubliche Anzahl an rasanten Szenen. Es gibt aberwitzige Hetzjagden per Motorrad durch die engen Gassen Neapels, oft aus Sicht des Fahrers gefilmt, Autoverfolgungen satt und eine halsbrecherische Flucht über Häuserdächer. Das Sahnestück - der Ritt Merlis auf dem Dach einer fahrenden Bergbahn - (ganz offensichtlich nicht gedoubelt!) bei der Verfolgung des Bankräubers Franco Casagrande (Elio Zamuto) ist schlicht atemberaubend und erinnert stark an einen ähnlichen Stunt, den Jean-Paul Belmondo in ANGST ÜBER DER STADT ebenfalls in Eigenregie absolviert hat. Merli selbst ist natürlich wieder einmal voll in seinem Element als radikaler Kommissar, der überall aneckt und seine Vorstellung von Recht ohne Rücksicht auf Verluste durchboxt. Keiner konnte ihm in punkto Intensität das Wasser reichen, wenn es um die Darstellung dieses speziellen Bullentypus ging.
Das Ende ist passend zum Film schön traurig (!) und von Micalizzi mit feinen Molltönen unterlegt. Und wer nach der Sichtung dieses Kleinods immer noch nichts mit der Gattung des Poliziottesco anfangen kann und sofort nach dem Abschalten Lust auf mehr bekommt, der kann dieses Genre getrost für sich abhaken. Viel besser wirdÂ’s nicht mehr.
Ein derber Poliziottesco erster Sahne mit allem was dazugehört. Einsteigen, anschnallen, Spass haben. Für durch den Genuss hervorgerufenes Suchtverhalten haften wir nicht.