KONZERTFILM: IRL/USA, 2007
Regie: Chris Hilson
Darsteller: Bruce Springsteen, M.A. Thompson u.a
Leider habe ich es bisher noch nie zu einem Bruce-Springsteen-Konzert geschafft. Als er zuletzt in Wien war, hatte ich zwar Karten - jedoch verhinderte eine ernste Lungenentzündung meine damalige Teilnahme. Für die Tour zu seiner Solo-Scheibe "Devils & Dust" wiederum wurden derart kleine Hallen gebucht, dass es ohnehin aussichtslos war, dafür eines der sauteuren Tickets zu ergattern.
Nach dieser Tour erschien Springsteens Pete-Seeger-Tribut "We Shall Overcome" - eine CD, die mich durchaus in ihren Bann ziehen konnte. Es war das erste Boss-Album, auf dem die Lieder nicht von ihm selbst geschrieben waren - und es waren durchwegs traditionelle Volkslieder. Eine Musikrichtung, der auch ich mich bisher sehr erfolgreich entzogen habe. Doch obwohl mir das Album ob seiner Einzigartigkeit hervorragend gefallen hat, ging die zugehörige - gar nicht kleine - Tour unbemerkt an mir vorbei. Das sollte sich als meine bisher größte Verfehlung herausstellen. Auch das DVD-Release bekam ich nicht bewusst mit - ich bin rein zufällig über die kleine Pappschachtel gestolpert.
Was dann folgt, ist durchaus der eine oder andere Kulturschock - bereits der Opener "Atlantic City" erfordert einen Blick auf die Rückseite der DVD-Hülle, um ihn zu erkennen. Außer den Lyrics hat diese Neuinterpretation nichts mit dem Original gemeinsam. Der perfekte Song, um dem Zuseher gleich zu Beginn die Radikalität dieses Konzerterlebnisses zu vermitteln. Da stehen gezählte 18 Mann auf der Bühne - und es gibt nicht ein elektronisches Instrument. Akustische Gitarren, Kontrabass, Posaune, zwei Violinen, Saxophon, Klavier, Banjo, Steel-Pedal-Guitar, Sousaphon, Akkordeon, Blockflöten, jede Menge Percussion und Background Vocals
man kommt aus dem Staunen ob der musikalischen Vielfältigkeit auf dieser Bühne kaum heraus.
Obwohl hier eine derart umfangreich und unterschiedlich besetzte Band ihren Dienst versieht, hat man den Eindruck, als spielte sie bereits seit Jahrzehnten in dieser Besetzung zusammen. Bereits nach dem ersten Song ist somit klar, dass man hier etwas wirklich Großes in den nächsten zwei Stunden zu sehen bekommen wird.
Sofort fallen auch zwei weitere Dinge auf: die Musiker erfüllen durch ihre Kleidung und ihr Auftreten - ganz bewusst - so manches Folk-Klischee, ohne dabei aber peinlich zu wirken. Und: Springsteen-typisch ist alles zentriert auf die Musik - was er hier an großartigen Musikern in Qualität und Quantität mehr bietet, spart er bei den Effekten: eine Lichtshow wie bei anderen Rock-Acts oder Konzerten dieser Größe ist nicht existent. Die Beleuchtung ist minimalistisch, bestenfalls zweckmäßig: gepaart mit Outfits und Auftreten entsteht durch das Halbdunkel auf der Bühne umso mehr eine authentische Atmosphäre von Jahrhunderte alter Musik. Daraus resultiert eine eher mangelhafte Bildqualität der DVD - und ein oft viel zu dunkles Bild. Das ist aber mehr als verschmerzbar, zumal die meist nur halbseitige Beleuchtung der Akteure eben eine besonders angenehme Atmosphäre produziert.
Bruce Springsteen hält sich dann aber nicht lange mit Neuinterpretationen seiner eigenen Songs auf: auf den Opener folgen gleich drei Traditionals. Hier zeigt sich dann auch das Konzept, das Springsteen verfolgt: er motzt die alten Songs nach Strich und Faden sowie allen Regeln der Kunst auf. Was früher vielleicht ein einzelner Mann mit Gitarre gesungen hat, schleudert Springsteen hier mit seinem gewaltigen 18-Mann-Orchester ins -restlos begeisterte und überschwängliche - Publikum. Selbst Zuhause drückt einem der bombastische Sound zurück in die Couch - noch nicht wissend, dass man erst am relativ harmlosen Anfang des Konzertes steht.
Der wichtigste Punkt bei der ganzen Sache ist aber: obwohl die Songs in Springsteens Interpretation so frisch und energiegeladen klingen, als wären sie der Gegenwart entsprungen
der Boss hat die musikalische Größe und das Können, ihnen dadurch nicht die Seele zu rauben. Im Grunde hält er sich nahezu peinlich penibel an die Vorlagen, ändert nichts an den Grundaufbauten der Songs. Vielmehr fügt er hinzu - und zwar Vielfalt, davon aber auch reichlich. Das beginnt bei der schlichten Anzahl der verschiedensten Instrumente, die gleichzeitig an einem Song beteiligt sind - und endet bei individuellen Solos der jeweiligen Band-Blöcke - wie z.B. den Bläsern oder den Streichern.
Es soll damit gezeigt werden, dass diese Songs außergewöhnliche und kunstvolle Kompositionen sind, die höchst komplexe Darbietungen ermöglichen. Wenn Folk-Songs beginnen, an der 10-Minuten-Markte zu kratzen, kann man sich vorstellen, was auf der Bühne abgeht. Feurige Solo-Duelle sind dabei absolute Highlights - egal ob Violinen gegen Bläser, männliche gegen weibliche Background Vocals oder akustische Gitarre gegen Banjo angesagt ist.
All das macht daraus natürlich ein musikalisch gutes Konzert - aber noch kein unvergleichliches Erlebnis. Dies wird es erst durch die Begeisterung und die Freude, mit der jeder einzelne Musiker auf der Bühne steht. Es ist unbeschreiblich schön, dieser Truppe beim Musizieren zuzusehen - nicht einer spielt sein Programm hier routiniert runter, jeder ist mit Leib und Seele dabei. Hier sind Musiker am Werk, denen wirklich etwas an der Musik liegt, die sie darbieten - über jeden Zweifel erhaben. Und diese Freude springt sowohl auf das Publikum im Saal als auch auf den Zuseher im Wohnzimmer über.
Absolute Highlights sind definitiv auch die Neuinterpretationen einiger Springsteen-Songs - vor allem das übermenschliche "If I Should Fall Behind" und das dem 9/11-Album "The Rising" entsprungene und ebenfalls komplett neu geschriebene "Further On (Up The Road)". Die nahezu verschwenderisch vielfältige Instrumentierung mündet auch in einem unvergleichbar vielfältigen Stilmix: Rock, Folk und Country sind klar - aber es finden sich auch immer wieder Elemente wie Reggea, Gospel, Jazz, Blues und sogar Anflüge von Wiener Walzer.
In seiner Vielfalt und seiner Begeisterung ist dieses Konzert zweifelsohne einzigartig. Und es besteht kein Zweifel, dass es Bruce Springsteen mit seinem Projekt nicht nur gelungen ist, dem traditionellen Volkslied ein Denkmal zu setzen - sondern ihm wirklich neues Leben einzuhauchen. Der Boss zeigt, wie man Folk-Songs selbst musikalisch anspruchsvollen Zeitgenossen schmackhaft machen kann und gleichzeitig auch noch wie sie für astreine Unterhaltung und Begeisterung sorgen können.
Sehr lobenswert ist auch die Regie von Chris Hilson: er nimmt sich der klassisch-angestaubten Ausrichtung des Konzertes an und bietet einen genauso klassischen Live-Mitschnitt. Die in letzter Zeit so in Mode gekommenen Splitscreens, schnellen Schnitte, Bildverfremdungen, Slow Motions und der gleichen sucht man hier zum Glück vergebens.
Wenn es überhaupt negatives zu berichten gibt, dann eher nebensächliche Dinge: So ist zum Beispiel der 5.1-Soundtrack zwar authentisch, aber doch störend linkslastig abgemischt. Das liegt daran, dass man die Aufstellung der Band auf der Bühne möglichst 1:1 auf das räumliche Klangbild abstimmen wollte. Hier liegt aber das Problem, das die für nahezu jeden Song zentralen Violinen und Blasinstrumente im linken Bereich der Bühne positioniert sind. Rechts gibt es vorrangig Background Vocals und Percussion - was natürlich bei weitem nicht so im Vordergrund steht. Dadurch entsteht der Eindruck eines zu links- und centerlastigen Klanges. Schade, denn ansonsten ist das Konzert absolut perfekt abgemischt - klangtechnisch eine Referenz-DVD.
Bleibt nur noch Patti Scialfa: mit dieser Dame kann ich mich nicht anfreunden. Nicht nur, dass sie als einzige auf Springsteen-Konzerten immer teilnahms- und emotionslos wirkt - vor allem ihr übertrieben hoher und Vibrato-lastiger Gesang nervt. Nicht, weil sie es nicht kann - einfach, weil es weder bei E-Street-Konzerten noch in diesem Projekt passend zum restlichen Sound der Band ist. Ein absoluter Klogriff von Springsteen - aber was soll ich sagen: Er hat sie geheiratet, wir werden sie nicht mehr los. In dem Fall hätte er sich vielleicht von Meat Loaf beraten lassen sollen - der weiß, wie man eine zur Band passende, hervorragende Background-Sängerin rekrutiert (Patti Russo).
"Live in Dublin" ist definitiv mit Abstand das beste Live-Konzert, das ich jemals gesehen habe - egal ob auf DVD oder wirklich live vor Ort. Höchst unterhaltsame aber auch musikalisch anspruchsvolle Imagepflege für traditionellen Folk. Aber auch für akustische Instrumente: der Sound, mit dem Springsteen gemeinsam mit der Sessions-Band das Publikum auf die Bretter schickt, habe ich in dieser kraftvollen und voluminösen Art von keinem elektronisch unterstützten Line-Up jemals erlebt - Springsteens eigene E-Street-Konzerte eingeschlossen. Insgesamt eine astreine Deklassierung vom Boss an alles andere, was sich derzeit und in den letzten Jahren am Musikmarkt rumgetrieben hat. Ich bin restlos begeistert und tief beeindruckt.Was bleibt, ist der negative Beigeschmack, dass dies eine einmalige Tour von Bruce Springsteen war. Wer, wie ich, nicht wirklich live dabei war, wird auch nie wieder eine Chance dafür bekommen.