OT: Les lèvres rouges
HORRORKUNSTFILM: BELGIEN/DEUTSCH, 1971
Regie: Harry Kümel
Darsteller: John Karlen , Delphine Seyrig, Danielle Ouimet, Andrea Rau
Die frisch verheirateten Stefan und Valerie sind auf den Weg nach England, um Stefans Mutter die Nachricht der Hochzeit zu überbringen. Da jedoch keine Fähre von Ostende fährt, beschließen sie, die Nacht in einem Hotel zu verbringen. Stefan ist diese Unterbrechung nur recht, denn er fürchtet sich vor der Reaktion seiner Mutter, und er findet Gründe, den Aufenthalt zu verlängern. Im Hotel lernen sie außerdem die einzigen Gäste außer ihnen kennen, Gräfin Barthory und ihre Maitresse Ilona ...
KRITIK:Und damit beginnt ein Reigen sexueller Abhängigkeiten, Verführungen, Abgründe. Die dominante Gräfin ist unverhohlen an ihm interessiert und verängstigt zugleich seine Braut. Stefan genießt nicht nur die Annäherungsversuche, er entdeckt in sich auch eine dominante Seite, die er kurz danach seine Frau deutlich spüren lässt. Es wird jedoch nicht das letzte Mal sein, dass sich unter einem Charakter ein weiterer verbirgt, der in dem Augenblick zu Tage kommt, an dem die Nacht einbricht.
BLUT AN DEN LIPPEN ist weniger ein Horrorfilm als ein erotischer Film, der sich der Klischees des Horrorfilms bedient: Ein Hochzeitspaar, das auf einer Reise stecken bleibt, ein leeres Hotel, die blutigen Morde in der Stadt und natürlich die Gräfin, die ein Geheimnis mit sich trägt. Bereits vor 40 Jahren ist sie im Hotel gewesen, und seitdem kein Jahr gealtert. Ihre Vorfahren badeten sogar im jungfräulichen Blut, um ewig jung zu bleiben.
Regisseur Kümel ist sich dabei zu jedem Augenblick bewusst, dass er Themen inszeniert, die Anfang der 70er Jahre ihr Publikum im Bahnhofskino fanden. Lesbische Vampire, Nacktszenen, ausgelebter Sadismus, Gewalt, Blut. "This is completly Trash", räumt er auf dem Audiokommentar unverhohlen ein. Das hindert ihn jedoch nicht, dem Inhalt eine Form zu geben, die einem Kunstfilmer zur Ehre reicht. Jedes Bild ist durchkomponiert und erinnert bisweilen an die Gemälde großer Meister, und die Figuren tragen entweder nur schwarz (für den Tod), nur weiß (für die Unschuld) oder rot (für die Gefahr). Rot ist dabei die beherrschende Farbe, selbst die Überblendungen sind rot. In einem Bild sitzt die Gräfin in einem kirschroten Kleid auf einem bordeauxroten Sessel und trinkt ein hellgrünes, geheimnisvolles Elixier. In einem anderen Bild, dem vielleicht schönsten, umschließt die Gräfin Valerie mit Ihrem schwarzen Umhang, aus zwei Silhouetten am Abendhimmel wird eine.
Doch BLUT AN DEN LIPPEN ist noch mehr. Eine Hommage an eine vergangene Zeit, an ein vergangenes Kino. Sobald man das Hotel betritt, scheint man in der Vergangenheit zu sein. Requisiten, Kostüme, ja das ganze Auftreten der Gräfin, das sehr an die großen Göttinnen des Kinos wie Marlene Dietrich oder Greta Garbo erinnert, das alles hat mit der Jetztzeit nichts mehr zu tun. Jeden Augenblick könnte Erich von Stroheim mit Monokel um die Ecke biegen, aber das Hotel bleibt konsequent ebenso ausgestorben wie die Stadt. Selbst bei einem Ausflug nach Brügge sind die Straßen nahezu leer.
Ein solcher Effekt ist natürlich nur im Kino möglich. BLUT AN DEN LIPPEN ist das totale Kino. Regisseur Harry Kümel inszeniert nicht die Wirklichkeit, sondern einen Film, und er nutzt dazu sein filmtheoretisches Wissen. Wenn Stefan durch eine Verkettung unglücklicher Umstände Ilona in der Dusche tötet, ist das nicht nur eine Situation, die der Wirklichkeit Hohn spottet, sondern zugleich eine Referenz an PSYCHO, die sogar noch anhält, wenn Stefan die Leiche beseitigt.
Auf DVD ist der Film inzwischen in verschiedenen Versionen erhältlich. Ich empfehle die Special Edition von Blue Underground mit dem US-Titel DAUGHTERS OF DARKNESS, denn die hat neben dem vorzüglichen, unglaublich informativen Audiokommentar mit einem selbstironischen und zugleich gut erklärenden Kümel noch einen weiteren Vorzug: Die Bonus-DVD enthält mit THE BLOOD SPATTERED BRIDE einen anderen, großartigen Film, der ebenfalls sehr geschickt mit den Themen wie der Bathory-Legende, unerfüllte sexuelle Wünsche oder Dominanz und Unterwerfung spielt.
BLUT AN DEN LIPPEN ist die Edelversion des Sexpoitationkinos der 70er Jahre. Regisseur Kümel löst sich völlig von der Story, die nur ein Vorwand war, damit er Geldgeber fand. Er zeigt eine Welt, die es nicht gibt, die sich zeitlich nicht einordnen lässt, die nichts mit unserer Welt gemein hat. Und spätestens, wenn Stefan mit seiner Mutter endlich telefoniert, wird deutlich, dass wir dieser Illusion erliegen. Ohne jeden Spezialeffekt, ganz einfach durch die Macht der Bilder.