INDEPENDENT: D, 2007
Regie: Matthias Schüll
Darsteller: Maximilian Stangl, Stephanie Rehbock, Walter Cordier, Matthiasch Schüll, Carina Teufel
Robert (Maximilian Stangl) ist ein fast normaler Jugendlicher mit dem üblichen Stress, den so Heranwachsende eben plagen: Gerade hat er das Abitur (Matura) hinter sich gebracht, schon muss er seinen Zivildienst ableisten. Er hasst seine Mutter, und Freundin hat er auch keine. Ja, er ist sogar noch "Jungfrau". In so einer Lebenslage helfen wohl nur Drogen, die Robert hin und wieder einwirft. Wie gesagt, ein fast normaler Jugendlicher. Aber nur fast, denn Robert leidet unter dem Borderline-Syndrom, einer Persönlichkeitsstörung zwischen Neurose und Psychose, die nicht selten mit der systematischen Zerstörung des eigenen Körpers endet. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt? Schön wärs, das wäre ja noch manisch-depressiv - aber alle Eindrücke, die auf Robert einprasseln, legt der Jugendliche prinzipiell zu seinen Ungunsten aus. Schuldgefühle und Selbsthass zerfressen ihn, einzig in seinen (Tag)Träumen kann er an einen Fantasie-Ort fliehen, wo die Welt noch in Ordnung ist und er ungestraft mit seiner angebeteten Traumfrau sein kann. Ansonsten verbrüht er sich lieber mit einer heißen Dusche, um sich von seiner Schuld rein zu waschen.
Einzig Hannes (Walter Cordier), ein an MS (Multiple Sklerose) leidender Patient, könnte als so etwas wie ein Mentor für Robert fungieren. An ihm reibt sich Robert auch ordentlich, denn er kann einfach nicht verstehen, wie der an den Rollstuhl gefesselte Mann, der den Verfall seines Körpers bei klarem Verstand beobachten kann, noch so viel Freude am Leben aufbringen kann. Doch Robert ist nicht empfänglich für die Lebensweisheiten des alten Mannes. Eher ist er von Bill (Regisseur und Drehbuchautor Matthias Schüll) fasziniert, den er bei einem Autounfall mit tödlichem Ausgang kennen lernt. Der Club-Besitzer führt sich wie ein kleiner Drogenlord auf und gibt sich vollkommen eiskalt und egoistisch. Obwohl Robert weiß, dass von diesem Mann eine nicht zu unterschätzende Gefahr ausgeht, beginnt er eine Affäre mit dessen Freundin Isa (Stephanie Rehbock). Doch der erste Sex bringt nicht die erhoffte Wende in seinem Leben. Was bleibt, sind die selbstzerstörerischen Schuldgefühle
KRITIK:Borderline-Persönlichkeitsstörung - ein äußerst heikles Thema, das man sehr gut mit dem reißerischen Wort "Tabubruch" bewerben hätte können. Und auch sicher toll mit blutenden Wunden und Selbstverstümmelungen zu inszenieren gewesen wäre - doch "Blut" von Matthias Schüll und der Final Take Film Group aus dem bayrischen Fürstenfeldbruck geht einen anderen Weg.
Gezeigt wird vielmehr, wie so ein psychisch Erkrankter "tickt", was seine Gedanken sind, seine Wünsche, und welche Auswirkungen diese Störung auf das soziale Umfeld haben können. Das stimmige Jugenddrama ist ein sehr berührendes Werk geworden, das fein zwischen Verständnis und Stirnrunzeln balanciert. Einerseits wird man in Roberts Welt eingeführt, so dass man anfängt ihn zu verstehen - aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, denn das Irrationale dieser psychischen Störung führt auf der anderen Seite wieder zu einer gewissen Befremdung.
Immer wenn sich so etwas wie eine Lösung für Roberts Probleme anbahnt, wenn sich Menschen anfangen, sich näher für ihn zu interessieren, sabotiert er sich selbst. Dem Publikum geht es wie Roberts Mitmenschen - sein Schicksal lässt einen nicht kalt, aber ganz verstehen kann man sein Handeln auch nicht. Und in diesem Fall halte ich das sogar für einen gelungenen Aspekt des Films.
"Blut" ist einer jener Filme, die man ruhig als Glücksgriff im Independent-Bereich bezeichnen kann. Eine ungewöhnliche, aber funktionierende und lebensnahe Geschichte, gut inszeniert, mit guten Laien-Darstellern (allen voran Maximilian Stangl und Walter Cordier) - und einem Soundtrack, der seinesgleichen in der unabhängigen Szene sucht. Der 70-minütige Amateur-Spielfilm ist in Schwarz-Weiß gehalten, wobei die Traumsequenzen in einem wärmeren Sepiabraun gehalten sind. Das absolute Mini-Budget von 2.300,- Euro (2.000,- Euro für Treibstoff und Verbrauchsmaterialien, 300,- für Licht und Kran) wirkt sich in keinster Weise negativ aus. Mit dem Kamerakran wurde zwar ein bisschen übertrieben, aber damit kann man leben.
Anders als das Thema vermuten lässt, ist der Film nicht als Ganzes deprimierend. Es gibt humorvolle Momente, die das Ganze etwas auflockern. Ja, an manchen Stellen wirkt er sogar wie ein ganz normales "Coming-Of-Age"-Drama. Für die gelungene Charakterisierung muss man Regisseur und Drehbuchautor Matthias Schüll gratulieren, der eigene Erfahrungen verarbeitet hat: Er selbst litt neun Jahre lang am Borderline-Syndrom. Zwar liegt die Vermutung nahe - und viele von Roberts Monologen stammen aus Schülls Tagebuch -, dennoch betont der Regisseur, dass es sich bei dem Film um keine Autobiografie, sondern um eine fiktive Geschichte handelt.
Neben dem Film fallen noch zwei weitere Dinge auf: Das Bonusmaterial auf der DVD und der Soundtrack. Bei ersterem handelt es sich nicht um die übliche "Wir-sind-alle-so-großartig-deswegen-ist-der-Film-so-großartig"-Selbstbeweihräucherung, sondern um eine echte Bereicherung im Bereich Making Of. Ehrlich wird da geschildert, welche Mühen es zu bewältigen gab. Man wird auch das Gefühl nicht los, dass die Crew nicht nur einmal knapp davor war, das Handtuch zu werfen. Und falls jemand ein absoluter VFX-Afficionado ist bei manchen Szenen erfährt man erst im Bonusmaterial, dass da ganz ordentlich getrickst wurde. Hut ab!
Und auch die Musik zum Film kann sich hören lassen: Angefangen von Jazz bis Techno, von auf die Goldenen 20er getrimmte Songs ("Das ist im Leben hässlich eingerichtet") bis Rock und Pop ("Rise And Fall") - einen ausgefeilteren und stimmigeren Soundtrack habe ich im Independent Bereich selten noch gehört. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass viele der beteiligten Filmemacher selbst Musiker sind. Und bei Matthias Schülls "Rise And Fall" hätte ich wirklich auf eine kleine Perle des Indie-Pops getippt - dabei wurde der Song extra nur für diesen Film geschrieben. Dementsprechend war ich auch ein bisschen enttäuscht, dass das Lied auf der Soundtrack-CD (gibt es extra zu kaufen) genau so lang wie im Film ist.
Borderliner Sind das nicht die, die sich selbst zwanghaft mit Rasierklingen ritzen? Eine psychische Störung, ja, aber das war es auch schon, was ich bisher zu diesem Thema wusste. Mit "Blut" präsentiert die deutsche Final Take Group ein Jugenddrama der etwas anderen Art.
Selbst auf die Gefahr, mich zu wiederholen - "Blut" ist ein echt sehenswerter Indie-Film. Vielleicht, weil das Thema für einen Spielfilm unverbraucht ist, ganz sicher aber auch wegen der Umsetzung.