THRILLER: USA, 1986
Regie: David Lynch
Darsteller: Laura Dern, Dennis Hopper, Kyle MacLachlan, Isabella Rossellini
In der idyllischen amerikanischen Kleinstadt Lumberton ist die Welt noch in Ordnung. Umso überraschter ist der brave Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan), als er eines Tages ein abgeschnittenes Ohr im Gras findet. Mit dem Pflichtbewusstsein eines anständigen Bürgers bringt er das Indiz schön eingetütet zur Polizei. Der zuständige Kommissar bestätigt ihm noch einmal, dass dies tatsächlich ein "menschliches Ohr" ist. Somit habe er richtig gehandelt, dies der Polizei zu übergeben. Aber ab jetzt solle er sich besser ganz aus der Sache heraushalten.
Doch da es in einer Stadt wie Lumberton nicht alle Tage passiert, dass man so aufregende Dinge wie abgeschnittene menschliche Ohren im Gras findet, ist Jeffreys Neugier geweckt. Er erfährt von Sandy (Laura Dern), der Tochter des Kommissars, dass die Sache offenbar etwas mit einer Nachtclubsängerin namens Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) zu tun hat. Als Sandy ihm auch noch das Haus zeigt, wo diese wohnt, beginnt Jeffrey sofort Pläne zu schmieden, wie er dort eindringen kann. Und da Naivität zu Kühnheit führen kann, wird dies auch bei der nächstbesten Gelegenheit in die Tat umgesetzt. Was Jeffrey dort entdeckt, ist eine abgründige Welt voller Gewalt und Perversion, die ihn zugleich schockiert und fasziniert und in die er sich immer weiter zu verstricken droht ...
KRITIK:BLUE VELVET! - Einer der ganz großen Filmklassiker der 80er Jahre, egal welchen Genres, und auch einer meiner persönlichen Lieblingsfilme, die ich mir immer wieder mit ungebrochener Faszination ansehen kann. Doch wieso ist das eigentlich so? - Gerade habe ich den Film nach einer mehrjährigen Pause erneut geguckt. Und diesmal hatte ich das Gefühl ein wenig besser zu verstehen, was, wenigstens für mich, seinen besonderen Zauber ausmacht.
Zunächst einmal funktioniert BLUE VELVET wie jeder klassische Hollywoodfilm. Lumberton verkörpert das Ideal einer amerikanischen Idylle. Aus dieser wird der werdende Held (Jeffrey) jäh herausgerissen und muss nun über sich selbst hinauswachsen, um das Böse zu besiegen. Am Ende ist das Idyll wiederhergestellt und unser Held zu einem Mann herangereift. Die Reinheit und die Unschuld der gutherzigen Provinzbevölkerung wird verkörpert durch die blonde, naive Sandy. Ihr gegenübergestellt ist die schwarzhaarige Femme fatale Dorothy Vallens. Ganz klar, dass sich der "all american boy" Jeffrey letztendlich gegen die Verlockungen der Sünde und für den Pfad der Tugend, und somit auch für die richtige Frau (Sandy), entscheidet.
Auch Jeffrey selbst erfährt in BLUE VELVET eine Dopplung (übrigens eines der Grundmotive der meisten Filme von David Lynch). Er selbst verkörpert natürlich ebenfalls die Unschuld vom Lande. Ihm gegenübergestellt ist der psychopathische Gangster Frank Booth (Dennis Hopper). Dass der die tief in Jeffrey schlummernde dunkle Seite verkörpert, zeigt sich unter anderem darin, dass sie beide die verführerische Dorothy begehren. Doch während Jeffey nur Sandy bezüglich seines wahren Interesses an diesem "Fall" anlügen muss, um Dorothy zu treffen, greift Frank da schon zu weit drastischeren Mitteln...
Und dieser Frank ist es auch, der sich jedem, der BLUE VELVET einmal gesehen hat, für immer ins Hirn einbrennt. Dennis Hopper spielt hier die Rolle seines Lebens. Und einen noch durchgeknallteren Psychopathen hat das Kino bis heute nicht gesehen! Für Hopper war der Film ein Comeback, da er aufgrund seiner eigenen Alkohol- und Drogenabhängigkeit zuvor jahrelang auf Hollywoods Schwarzer Liste stand. So spielt er die Rolle des drogensüchtigen Psychopathen mit einer schier unglaublich wirkenden Eindringlichkeit. Dabei reißt er sogar diverse erinnerungswürdige Sprüche, wie z.B. "Heineken? - Fuck that shit! Papst Blue Ribbon!" Und selbst seine Szenen (sexueller) Gewalt sind meist so grotesk, dass man oft zugleich aufschreien und lachen möchte!
Diese Ambivalenz durchdringt bei näherer Betrachtung den gesamten Film, und genau sie ist es, die BLUE VELVET bis heute so unvergleichlich macht! - Das beginnt schon mit der ersten Einstellung, die zeigt, wie sich unter dem sorgfältig gepflegten Gras des biederen kleinstädtischen Vorgartens bedrohliche Käfer unheimlich knackend wild bekämpfen.- Oder die Szene, wo Jeffrey und Sandy zusammen im Auto sitzen und Sandy anfängt vom Rotkehlchen zu erzählen. Diese Szene ist zugleich zur Lächerlichkeit überzogener Kitsch und ganz großes, gefühlvolles Melodram.
Auch die Rolle von Dorothy Vallens ist keineswegs so eindeutig, wie sie (Jeffrey) auf den ersten Blick erscheint. Zuerst ist sie das bemitleidenswerte Opfer, das hilflos in den Krallen der Bestie Frank gefangen ist. Aber kurz darauf entpuppt sie sich auch als eine echte Masochistin, die Jeffrey aus ihrem Bett rausschmeißen will, weil er ihrer Aufforderung sie zu schlagen, (zunächst) nicht nachkommen mag.
Nur Frank erscheint als das absolut Böse. - Doch als er den tuntigen Ben besucht, wird er auf seine Art auf einmal überraschend feinfühlig. Und wieso ist der knallharte Macho Frank eigentlich so von Ben fasziniert, dass er wütend Respekt für ihn einfordert? Einen Hinweis darauf gibt das Lied, zu dem er Ben auffordert in bester Karaoke-Manier zu singen: "In dreams I talk to you, in dreams I walk with you..." Dies, und die ganze Art, wie sich Frank gegenüber Ben verhält, deutet darauf hin, dass er eindeutig mehr als rein freundschaftliche Gefühle für ihn hegt.
In diesem Zusammenhang passt auch die Szene, in der Frank - erneut zu dem Lied "In Dreams" - Jeffrey mit Lippenstift beschmiert, ihm ganz ernst mitteilt, dass der Song ausdrücklich an ihn gerichtet sei und ihn dann in wütender Verzweiflung zusammenschlägt. - Um es kurz zu machen: ist Franks Problem nicht ganz einfach, dass er in Wirklichkeit schwul ist, sich dies jedoch nicht selbst eingestehen will? Dann wäre sein ganzes krankhaftes Verhalten tatsächlich ein verzweifelter Hilfeschrei seines unterdrückten wahren Ichs! - Und was führt Frank dazu, dass aus dieser Sache für ihn ein derart unlösbares Dilemma wird? - Wahrscheinlich doch ganz einfach die strengen moralischen Konventionen der ach so guten, braven Bürger!
Und so hat auch das zuckersüße Happy-End einen mehr als leicht schalen Beigeschmack. Hier ist einfach alles zu schön und zu nett, als dass man glauben mag, dass Jeffrey nach all seinen wilden Erlebnissen nun tatsächlich sein Glück in der biederen Kleinbürgeridylle findet. - Es erscheint eher so, als ob nun Jeffreys wilde, ekstatische Seite genauso unterdrückt ist, wie die heimliche Homosexualität von Frank. Und so ist eines der letzten Bilder des Films auch das eines Vogels, der einen der wilden Käfer vom Filmbeginn in seinem Schnabel gefangen hält.
Ja, diese so dunkle und perverse Welt, in die Jeffrey zuvor eingetaucht war, war für ihn auch sehr intensiv und sehr lustvoll. Sogar die sadomasochistischen Spielchen mit Dorothy hat er, nach verständlichen Anlaufproblemen, wirklich genossen. Und so kann man sich auch fragen, warum er sich eigentlich nicht für die aufregende Sängerin entschlossen hat, anstatt Sandy ihrem Sportler-Freund wegzunehmen.
Und so ist BLUE VELVET einfach unglaublich vielschichtig und letztendlich fast genauso irrational, wie David Lynchs spätere Filme. Denn auch wenn er hier noch eine scheinbar gut nachvollziehbare Handlung erzählt, so stürzt er mit diesem Geniestreich nicht nur Jeffrey, sondern auch den Zuschauer, (immer wieder) in ein verwirrendes Bad von Gefühlen. Und am Ende wissen auch wir nicht mehr wirklich, was richtig und was falsch ist. Aber dafür haben wir eine neue Erkenntnis gewonnen: Die (scheinbar ganz gewöhnliche) Welt ist in Wirklichkeit ein einziges großes Geheimnis. Oder wie es leitmotivisch immer wieder im Film gesagt wird: "Dies ist eine fremde, seltsame Welt." (Its a strange world").
In BLUE VELVET krabbeln unter dem langweiligen, schönen Rasen hässliche, wilde Käfer und finden sich von lebenden Personen abgeschnittene Ohren im Gras. Hier wetteifert ein nettes Spießbürgertum mit einem dunklen, faszinierenden Reich der Perversionen. - Willkommen in der fremden, seltsamen Welt von Lynchland!