GIALLO & FRIENDS: GB, 2012
Regie: Peter Strickland
Darsteller: Toby Jones, Cosimo Fusco, Antonio Mancino, Fatma Mohamed
Ein Sound Engineer auf Montage in einem Tonstudio in Italien. Ein Film mit dem kultverdächtigen Namen THE EQUESTRIAN VORTEX braucht Hexenwispern, Todesschreie und den dumpfen Laut einer Machete, die auf einen Schädel trifft...- Während der Mann morbide Geräusche auf die Tonspur bringt, bröckelt um ihn herum die Fassade der Normalität ...
I
Schließt die Augen, ignoriert die Bilder und hört einfach nur einmal rein. In die infernalen Geräuschkulissen eines italienischen Splatterfilm der späten 70er, frühen 80er Jahre. Am besten ruft ihr euch einen Zombiefilm von Fulci zurück ins Gedächtnis. DAS HAUS AN DER FRIEDHOFSMAUER vielleicht. Oder EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL; der funktioniert besonders gut.
Wenn dort eine Tür quietscht, quietscht keine Tür, sondern eine alte gußeiserne Pforte zu einem Mausoleum. Wenn dort Maden wimmeln, dann scheint dieses Wimmeln, dieses gefräßige Wimmeln nicht nur das Wohnzimmer, sondern die ganze Welt zu erfüllen. Und dann natürlich diese Schreie. Diese gellenden, endlosen Schreie... Wenn man dieser Welt, dieser blutigroten, akustischen Welt des italienischen Splatterkinos, diesen Soundtracks zur Schlachtbank nie zugehört hat - und das dürfte kaum jemand, der das Tape Trading & Hunting dieser seligen, fanatischen (VHS)-Tage nicht selbst mitgemacht hat - , der wird schwerlich zur Essenz des BERBERIAN SOUND STUDIO finden.
II
Dann ein Vorspann zum Niederknieen. Nicht für das BERBERIAN SOUND STUDIO, sondern für den Film im Film. In Italienisch gehalten. Un film di Giancarlo Santini. Il vortice equestre. Auf gut Englisch: THE EQUESTRIAN VORTEX. Ich brauche keine Bilder dazu. Ich kann mir diesen Film vorstellen ohne ihn zu sehen.
Nur untermalt vom unglaublichen Opener der Birminghamer Indie-Band Broadcoast. Die urplötzlich einen Sound zocken wie Goblin zu ihren besten Zeiten. Allein dieser Vorspann schickt schon die Hälfte der derzeit umeinander flimmernden Giallo-Epigonen im Bruchteil einer Sekunde ins Elysium...
Entarnt deren reines Epigonentum; evoziert dabei eine für die heutige Zeit ungeahnte Originalität und beweist, dass man seinen Idolen auch äußerst clever Tribut zollen kann. Die Vorbilder wurden genau studiert; die interessantesten (und/oder) abseitigsten Merkmale herausextrahiert und in eine neue Form gegossen.
III
Silencio.
IV
Hier sehen wir wie die Synchronsprecherinnen und Regisseure, die Tontechniker und Geräuschemacher, die Greueltaten in einem fiktiven italienischen Horrorfilm dem Zuschauer ins Gehör bringen. Nicht einen einzigen Ausschnitt aus THE EQUESTRIAN VORTEX bekommen wir zu Gesicht. Komplett Off-Screen. Wir sehen sie ausschließlich im Kopf. Wenn eine Sprecherin ins Mikrophon hexenhaft kreischt. Wenn etwa eine Melone herangezogen wird, um einen Machetenschlag in einen Schädel akustisch zu simulieren.
V
Gemüse ist the sound of gore!
VI
Die Frage beschäftigt mich, ob der Hauptdarsteller wegen seines Aussehens gecastet wurde. Er sieht nämlich aus wie der hier bei Filmtipps auf ewig heilig gesprochene Lucio Fulci. Kann nur Absicht gewesen sein. Dabei ist mir diese Ähnlichkeit nie aufgefallen, als Toby Jones noch den Aushilfspathologen bei den MIDSOMER MURDERS gegeben hat. Strickland ist sie.
Und in seiner Hommage ist er Perfektionist. Doch ob nun bewußt oder unbewußt; dies ist nur ein weiterer genialer Schachzug in einer ganzen Reihe von genialen Schachzügen. It's a Santini-Film. In Wahrheit läuft da im Hintergrund (und nur auf der Tonspur auf schauerliche Weise omnipräsent) scheinbar ein in den Archiven der Jahre 1979 bis 1982 vergessener Fulci-Film. Man sieht die de Rossi-Effekte zwar nicht, aber man hört sie. Bilder, die nicht wirklich sind, werden vom Ohr zum Auge transportiert. Maden, Augäpfel, unheilige Hexenstätten: Es sind blutige, abseitige Fata Morganas. Dies ist eine eineinhalbstündige Auferstehung der großen, alten italienischen Horror- und Thrillerfilme. Doch vor allem ist dies ein beinahe schon Lynch-artiger Blick hinter die Kulissen des Filmemachens; und der ist in diesem Fall wenig romantisch; manchmal absurd, bisweilen beunruhigend.
VII
Irgendwie hat mich der Film - und noch einmal gleiten wir geschmeidig zurück zu den guten alten VHS-Tagen- an den schwedischen Splatter-Flick EVIL ED denken lassen. Ihr erinnert euch doch noch an Ed, den Cutter, der in einer einsamen Hütte all die Zensurschnitte in den Gewaltfilmen gemacht hat und angesichts dieser ÜberDOSEN Gore gnadenlos durchgedreht hat? Der Hauptprotagonist befindet sich auf dem selben Pfad...
VIII
Hexenhammer, schwarze Handschuhe, Tributes to Edda Dell'Orso's wordless vocals ... Like he promised us to the words of the saints ... Wunderbar, und dabei fängt der Film erst an - mit all seinen mannigfachen Facetten, Homagen, Anspielungen, Tributen, an das italienische Genrekino der 70er und 80er.
Und er ist absolut unberechenbar. Was nicht viele Filme in diesen unseren Tagen von sich behaupten können.
IX
Der Film ist von 2012? Wunderbar. Dann habe ich kurz vor Torschluss doch noch meinen persönlichen Lieblingsfilm des Jahres gefunden! Lange, viel zu lange hat mich ein Streifen nicht mehr derart stark an jene Werke erinnert, die meinen cineastischen Geschmack geprägt haben und wohl für immer prägen werden.
X
In diesem Sinne "Malleus Maleficarum." - "This confirms what I have suspected..." Oder in diesem Sinne: "Wait, Monica, I'm sure this is the place where they were buried..." Oder zur Synchronsprecherin: "I didn't ask you to fake orgasm. You can save it for your next casting director. Do it again. I want to feel fear!" Oder: "This is not a Horror film; it's a Santini Film!" Oder "Here comes the sabbath, there goes the cross!"
Oder "Forever and ever ... Amen!"
Giallo für die Ohren. Der Soundtrack zur Schlachtbank. So klingt Peter Stricklands unberechenbare und hochoriginelle Verbeugung vor dem italienischen Genrekino der 70er und 80er.
Ab 23.8.2013 exklusiv im Wiener Gartenbaukino, noch dazu in 35mm.