DRAMA/HORROR: DK/D, 2009
Regie: Lars von Trier
Darsteller: Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg
Ihr Sohn ist aus dem Fenster gestürzt. Er, kühler Psychologe, hat das Trauma auffällig rasch überwunden. Sie, von Schuldgefühlen geplagt, versinkt in Angst und Depressionen. Er therapiert sie. Konfrontiert sie mit ihren Urängsten. Draußen, im Wald. In einer Hütte namens Eden. Blutegel und sich selbst zerfleischende Waldtiere sind nur der Vorbote des Chaos, das über das Paar hereinbricht ...
KRITIK:Schon der Prolog hat hypnotische Kräfte: In Schwarzweiß, zu pathetischer Opernmusik, in extremer Zeitlupe werden wir Zeuge eines Liebesakts. Close-Up auf Seinen erigierten Schwanz, der in Sie eindringt. Ein Kunstporno? Falsche Fährte! Im nächsten Moment steigt ein kleines Kind auf den Fenstersims. Fällt in die Tiefe. Tod. Trauma. Trauerarbeit.
Dann das erste Kapitel. "Grief" - Trauer. Ihre Depression läuft aus dem Ruder. Er hat seine Grundsätze - niemals die eigene Familie therapieren, nie mit einer Patientin schlafen - schnell vergessen. Die Therapie beginnt. Und artet in ein Inferno aus.
Nein, an dieser Stelle keine weiteren Handlungsdetails. Und auch kein Wiederkäuen von Fakten, die sich eh längst herumgesprochen haben sollten. Nur soviel: Lars von Trier hat das Drehbuch zu ANTICHRIST inmitten einer schweren Depression geschrieben. Als Selbsttherapie. Was man dem "wichtigsten Film seiner Karierre" (der Regisseur im Presseheft) auch anmerkt.
Ich hatte glücklicherweise das Privileg, nie eine klinische Depression erlebt zu haben. Aber so, stelle ich mir vor, fühlt sie sich an. Die erste Stunde von ANTICHRIST ist mit das Beklemmendste und Erschreckendste (weil Realistischte), was ich seit langem im Kino gesehen habe.
Aber leider hat der Film auch eine zweite Hälfte. Oder, genauer gesagt, zwei weitere Kapitel, die sich "Chaos Reigns" und "The Three Beggars" nennen. Hier hebt der Film richtig ab. Lars von Triers Therapeut muss wohl auf den Namen Takashi Miike gehört haben. Anders lässt sich der groteske, kranke Wahnsinn, der sich mitten im deutschen Wald entfesselt, nicht erklären: Schon mal eine Schamlippen-Amputation mit einer Gartenschere gesehen?
Eine kalkulierte Provokation, klar. Und es freut mich aufrichtig, dass sie aufgegangen ist. Das Publikum stöhnt an den betreffenden Stellen richtig auf. Und der Skandal in Cannes ("Frauenfeindlichkeit!", "Gewalt!", "Sexismus!") war bekanntlich perfekt.
Trotzdem ist es fast ein bisschen schade, dass die bluttriefenden Exzesse dem Film einiges von seiner emotionalen Wucht nehmen. Die schockierende Studie weiblicher Depression (und männlicher Überheblichkeit) endet in zwar perfekt gemachten, aber doch etwas konventionellen, um nicht zu sagen etwas kindischen Torture-Porn-Bildern.
Was aber niemanden vom Kinobesuch abhalten sollte. Trotz der erwähnten Wendungen ins Bizarre, ins Groteske, ins Übernatürliche, ist ANTICHRIST immer noch ein hervorragender Film, der viel Wahres über den Geschlechterkampf und männliche Grundbefindlichkeiten (call it Abgründe if you like) erzählt.
Und die Kamerarbeit ist sowieso der Hammer. Wie von Trier die unheimliche - und unheimlich schöne - Naturkulisse ins Bild rückt, das ist schwarze Romantik pur. "Nature is Satan's Home", lautet ein schönes Filmzitat. Im Ernst, ich wünsche mir, der talentierte Naturfilmer Lars von Trier würde einmal eine "Universum"-Folge inszenieren.
Lars von Triers sehnsüchtigst erwarteter "Skandal"-Film: Beklemmende Depressionsstudie in der ersten Hälfte, (kalkulierte) Grenzüberschreitung in Sachen Sex- und Gewaltdarstellung in der zweiten. Trotz vereinzelter Anflüge diabolischen, perversen Humors bin ich ziemlich bleich aus dem Kino gewankt. Lars von Trier lacht mich dafür bestimmt aus. Schön für ihn - denn das bedeutet, dass seine filmische Selbsttherapie erfolgreich war.
In diesem Sinne: "A crying woman is a scheming woman."