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GOOD MOVIES FOR BAD PEOPLE
Anora

Anora

DRAMA: USA, 2024
Regie: Sean Baker
Darsteller: Mikey Madison, Yura Borisov, Darya Ekamasova, Ivy Wolk, Lindsey Normingto

STORY:

Stripperin Ani - Künstlername Anora - hat den Jackpot geknackt. In Gestalt des 21-jährigen, auch noch richtig feschen russischen Oligarchensöhnchens Ivan, der mit Dollarbündeln um sich wirft wie in THE WOLF OF WALL STREET.
"I give you two weeks" höhnt die eifersüchtige Stripper-Kollegin Diamond, als Ani die Botschaft von der spontanen Heirat in Vegas (wo sonst?) am ehemaligen Arbeitsplatz kundtut. Sie sollte recht behalten. Doch Ani wird das, von dem sie glaubt, dass es ihr gehört, mit Klauen und Zähnen verteidigen. Das ist durchaus wörtlich gemeint ...

KRITIK:

ANORA ist der neue Film von THE FLORIDA PROJECT-Regisseur Sean Baker, dem ein fantastischer Ruf vorauseilt. Goldene Palme in Cannes, ein Traum-Rating auf diversen Metakritik-Plattformen und auch ziemlich erfreulich Einspielergebnisse für den Indie-Verleih NEON (merke: es muss nicht immer A24 sein!) Ein Kritiker- UND Publikumshit also. Da sitzt man natürlich in der ersten Reihe. Das Votivkino war auch fast ausverkauft, Publikum tendenziell jung, mehr Frauen als Männer. Warum ich das erzähle? Kommt gleich.

Der Einstieg ist jedenfalls furios: Enormes Tempo, schöne Bilder (gedreht wurde auf 35mm-Material!), mitreißender Sound, auch überraschend expliziter Sex. Das ist treibendes, energetisches, zupackendes US-Indie-Kino, wie man es sich viel öfter wünschen würde. Mit einer unglaublich präsenten, enorm furchtlosen Hauptdarstellerin: Mikey Madison. Wir kennen sie von einer - nun ja - nur bedingt sympathischen Rolle aus ONCE UPON A TIME ... IN HOLLYWOOD und aus SCREAM 6.

In ANORA spielt sie eine Stripperin/Sexworkerin mit enormem Körpereinsatz. Die Kamera hält immer drauf, nimmt die Position des Zusehers ein, und man wundert sich doch, dass niemand empört das Kino verlassen hat. Privat-Theorie: Wahrscheinlich ist all die Empörungshuberei über "Male Gaze", "Voyeurismus", "ausbeuterische Blicke" und "Objektifizierung" ein reines Online-Phänomen, betrieben von Personen, die eh nie ins Kino gehen. Denen Filme im Grunde egal sind, denen es um Empörung der Empörung willen geht.

Man ahnt natürlich, dass die enthemmte Party like a Russian, wie der geschätzte Robbie Williams singt, irgendwann mit einem massiven Kater enden wird. Das passiert auch. Aber anders als erwartet. Erwartet hätte ich mir ein heftiges Melodram, das einen durchschüttelt und überfährt. Durchgeschüttelt wurden Teile des Publikums dann eh: Aber von Lachern. Irritierenderweise biegt der Film im Mittelteil nämlich in Richtung Mafia/Cultureclash-Komödie ab. Ich bin ja grundsätzlich leicht zu unterhalten und mag natürlich Komödien, aber nicht, wenn ich mir ein Melodram erwarte. Okay, mein Problem, man hätte ja eine Vorabkritik lesen können. Aber ich wollte mich dem Filmerlebnis möglichst unvorbereitet nähern. Eine kurze Google-Suche wirft diesbezüglich übrigens eher Verstörendes aus, nämlich Vergleiche mit PRETTY WOMAN. Hab ich nie gesehen, und kann mir auch nicht vorstellen, dass der sehenswert sein könnte. Ganz im Gegensatz zu Ken Russels WHORE, den ich lieber als Vergleich heranziehen möchte. Auch wenn der Vergleich hinkt.

Filme über Prostitution sind generell selten, ist halt ein Tabuthema in unserer ach-so aufgeklärten und liberalen Gesellschaft. Für Regisseur Sean Baker hingegen ist es ein Leitmotiv, die meisten seiner Filme nähern sich dem Thema Sexarbeit auf ungewöhnliche Weise. Am Ende kommt noch der große emotionale Punch. Es gibt eine arge Schlussszene, die langsam ausblendet und dem Abspann Platz macht. Die End-Credits laufen ohne Musik über die Leinwand, und der Kinosaal leert sich lautlos. Mich hat das Ende noch länger beschäftigt, und ich habe dann etwas getan, was ich sonst nie mache, nämlich eines dieser "Ending explained"-Videos auf Youtube anzusehen. Und ja, das ergibt Sinn. Und Diskussionsstoff. Aber seht selbst.

Anora Bild 1
Anora Bild 2
Anora Bild 3
Anora Bild 4
Anora Bild 5
Anora Bild 6
FAZIT:

Der diesjährige Cannes-Siegerfilm jetzt im Kino: Furioser Einstieg, irritierend komödiantischer Mittelteil, heftiges Finale. Filmisch natürlich großartig (35mm!) und von einer unglaublich tollen und furchtlosen Hauptdarstellerin getragen. Filme über Sexarbeit in den USA sind generell selten. Und selten so gut.

WERTUNG: 8/10
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