DRAMA: GB, 2023
Regie: Andrew Haigh
Darsteller: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy
Als der mysteriöse Nachbar Harry mit einer Flasche japanischem Whiskey vor Adams Apartment-Türe steht, weist Adam ihn höflich, aber bestimmt ab. Eine fatale Entscheidung. Aber das weiß Adam, der gerade ein Drehbuch über seine Kindheit im England der Thatcher-Ära schreibt, zu diesem Zeitpunkt noch nicht ..
... und das ist gut so. Das Nicht-Wissen. Das gefeierte Melodram ALL OF US STRANGERS des britischen Regisseurs Andrew Haigh ist nämlich einer dieser Filme, die um so besser funktionieren, je weniger man vorab vom Inhalt weiß. Keine Angst, ihr könnt an dieser Stelle ruhig weiter lesen, es wird nichts gespoilert. Außer das, was sich allgemein herumgesprochen hat: Dass der Film so unbarmherzig auf das Emotionszentrum einprügelt, als wäre er im Auftrag einer Papiertaschentuchfirma produziert worden.
Wichtiger Hinweis an dieser Stelle: ALL OF US STRANGERS ist aber kein berechnendes Tränendrüsen-Rührstück, kein Film, der einen runterzieht und die Stimmung in den Keller drückt. Ganz im Gegenteil. Auch wenn das Augenpipi fließt, hat es etwas Befreiendes, Euphoriesierendes. Weil der Film einfach ganz großartig gemacht ist - die Farben, das Licht, die Ausstattung und vor allem die Musik. Es sind drei bekannte Songs, die für Gänsehaut sorgen, weil sie tatsächlich Teil der Geschichte werden: "The Power of Love" von Frankie Goes To Hollywood, "Always On My Mind" von den Pet Shop Boys und vor allem "Death Of A Party" von Blur.
Ein paar Worte zu den Darstellern: Andrew Scott und Claire Foy kennt ihr Serien-Junkies bestimmt besser als ich, nämlich aus FLEABAG bzw. THE CROWN. Paul Mescal kenne ich hingegen besser als ihr, nämlich aus dem tollen Indie-Drama AFTERSUN. Mit dabei ist auch der immer supere Indie-Darling Jamie Bell (DEAR WENDY, HALLAM FOE, SKIN etc.)
ALL OF US STRANGERS ist ein mysteriöses Melodram, ein Film über Erinnerungen, Verlust, Traumata, über Familientragödien und Trauerarbeit, über verpasste Chancen - und - ihr habt es vielleicht schon erraten - The Power of Love - die Kraft der Liebe. Dass es sich um eine queere Lovestory (samt ein paar recht expliziter Sexszenen) handelt, dürfte für Gays im Publikum noch einen Extra-Bonus abwerfen, den ich leider nicht einlösen kann. Egal, man kann nicht alles haben. Zumal die Geschichte sowieso universell ist. Oder, wie es Pia Reiser und Christian Fuchs im immer superen FM4 Filmpodcast so treffend ausdrücken: Wer mit diesem Film keine Verbindung herstellen kann, outet sich wahrscheinlich als Alien. Denn jeder Mensch hat Eltern (lebende oder verstorbene), hat Kindheitserinnerungen, war einmal verliebt etc.
Und vielleicht noch ein Hinweis: Der Film bewegt sich auf eine im Wortsinne geisterhafte Weise zwischen Realität, Traum und Erinnerung. Das muss man freilich mögen, diese "I see dead people"-Momente. Aber ohne Auflösung am Ende. Die "Filme-müssen-alles-logisch-erklären"-Fraktion wird sich möglicherweise ein bisschen schwer tun mit diesem tollen Kinokunstwerk, das seine Geheimnisse gerne für sich behält.
Vielleicht ist es zu früh, Mitte Februar schon den Film des Jahres auszurufen. Das traumschöne, super-emotionale Melodram ALL OF US STRANGERS ist jedenfalls ein heißer Kandidat dafür.