OT: Agora
HISTORIENEPOS: SPANIEN/USA, 2010
Regie: Alejandro Amenábar
Darsteller: Rachel Weisz, Max Minghella, Oscar Isaac, Michael Lonsdale
Agora handelt vom Aufstieg und der Ausbreitung des Christentums im römischen Reich. Mitten darin Hypatia von Alexandria, emanzipiert, Philosophin, Lehrerin, Hüterin einiger Schätze der Bibliothek, die miterleben muss wie die Menschheit durch blinden Glauben um 1000 Jahre zurückgeworfen wird, am Übergang von Antike und Mittelalter.
KRITIK:Der Film 'Agora' des spanischen Regiesseurs Alejandro Amenabár ist eine ziemlich faszinierende Angelegenheit geworden. Imposante Kulissen, tolle Ausstattung, gelungene Atmosphäre und faszinierende Kamerafahrten, die irgendwie an 'Gladiator' gemahnen, aber eigentlich übertreffen, und das vielleicht sogar vulgäre Selbstbewusstsein eines Blockbusters treffen hier auf eine vollkommen unterkühlte Dramaturgie, den ewigen Diskurs zwischen Glauben und Wissenschaft und äußerst ungemütlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die natürlich nicht ganz historisch korrekt, aber dafür umso mehr als Kommentar über den Zustand, wo der Glaube über die Vernunft siegt gesehen werden können und dadurch auch zeitlos und aktuell sind.
Hypatia von Alexandria lehrt an der Bibliothek, steht für Frieden und Brüderlichkeit ein, zweifelt und philosophiert, ist so sehr in ihrer Welt gefangen, dass sie die Männer unglücklich macht, weil sie sich nicht für sie interessiert, und verliert vor lauter schönen Künsten den Bezug zur Realität, denn sie scheint nicht wirklich mitzubekommen, was auf den Straßen los ist und sie interessiert sich auch nicht dafür. Was diese frühen Christen aufführen, erinnert nicht von ungefähr an afghanische Zustände unter den Taliban. Da ist eine emanzipierte Frau mit offenen Haaren, die lehrt und denkt, die mit bunten Kleidern spazierengeht, die nicht im Traum daran denkt zu heiraten, sich der Gesellschaft zu fügen und irgendetwas zu glauben ohne es zu hinterfragen.
Es gibt für mich als Mensch kaum etwas schmerzhafteres als blinden Glauben und Eifer. Ich ertrage und verstehe Wut, Gier, Neid, Maßlosigkeit, so ziemlich jede große Sünde, ich kann mir wirklich alles erklären und aus genügend Distanz auch nachvollziehen. Aber Glaube (in seiner negativen Form) ist bei weitem das Unfassbarste und Dümmste, das der Mensch hervorgebracht hat, vor allem weil er widersprüchlich ist. Da wird Gott in all seiner Güte erfunden und dann fleißig in seinem Namen gemordet. Aus irgend einem Stück Papier, das vor tausenden Jahren in irgendeiner abgelegenen Wüste von einer Schar ungebildeter und unterprivilegirter Barbaren verfasst wurde, werden Normen abgeleitet, an die viele Menschen heute noch glauben, vollkommen unfähig ihren eigenen gesellschaftlichen Kontext zu begreifen und zu versuchen für diesen neue Lösungsstrategien zu entwickeln.
Agora analysiert das recht gut, zeigt auf der einen Seite wie das Christentum uns eigentlich geschadet hat und ins Mittelalter (zurück-)führte, vergisst aber leider den sozialen Hintergrund zu schildern. Hypatia ist nicht nur eine emanzipierte Frau, aus marxistischer Perspektive gehört sie zu allererst einer privilegierten Klasse an, die christliche Bewegung besteht jedoch aus dem Proletariat, den Rechtlosen, die hier eine Revolution auslösen und "die Reichen und Privilegierten" fressen wollen. Man könnte diese Geschichte sicher auch aus dieser Perspektive erzählen. Natürlich sollte man dann auch nicht vergessen zu erwähnen, dass auch diese Revolution gescheitert ist, dass die Eliten auch weiterhin bestehen geblieben sind, dass ihre Konvertierung zum Christentum eine reine Farce war.
Leider ist aus Agora nicht der perfekte Film geworden, mit der Dramaturgie hapert es, zu zerissen pendelt der Film hin und her zwischen den "historischen" Ereignissen, den Charakteren und seinen philosophischen Diskursen. Darüberhinaus ist Hypatias Charakter ist nur schwer zugänglich, da eigentlich nur ihre intellektuelle Seite gezeigt, ihr Gefühlsleben aber total vernachlässigt wird. Trotzdem versteht es dieser 70 Millionen Dollar Schinken wachzurütteln und zum Denken anzuregen. Amenabars kunstvolle Regie tut ihr übriges um einen der ungemütlichsten und ambitioniertesten Blockbuster aller Zeiten zu kreieren.
Der Film hat leider nur die Hälfte seiner Kosten eingespielt, war aber dafür in Spanien der Kassenschlager des Jahres 2009. In Italien wurde offenbar wegen der kritischen Haltung gegenüber dem Christentum kein Verleih gefunden. Ich persönlich finde übrigens, dass dieser Film unbedingt im Schulunterricht gezeigt werden sollte. Denn so sieht spektakuläre Aufklärung und kompromisslose Unterhaltung in einem aus.
Alle regen sich immer darüber auf, dass Blockbuster Müll sind? Bitte sehr, liebe Filmfreunde, hier kommt Agora, ein teilweise schmerzhaft anzusehender, beunruhigender und komplexer Blockbuster, der es verdient angesehen zu werden und zwar gerade nicht wegen seiner beachtlichen Form (die er aber trotzdem hat), sondern weil er es wagt erwachsen und kritisch daherzukommen. Da kann man schon über die eine oder andere Länge und Imperfektion hinwegsehen. Sehr sehenswert!