OT: You Were Never Really Here
THRILLER: F/USA, 2017
Regie: Lynne Ramsay
Darsteller: Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Alex Manette, Judith Roberts
Die Tochter eines Politikers ist verschwunden. Joe wird seinen Vorschlaghammer einpacken und sie zurückholen. Und dabei mehr Schädelknochen brechen als in jedem anderen Film in diesem Jahr ...
Samstag Abend im Multiplex. Ein Massenauflauf epochalen Ausmaßes. Die halbe Stadt will den neuen AVENGERS-Film sehen. Während in mehreren Sälen gleichzeitig Iron Man mit seinen Gadgets spielt und Thor seinen Hammer schwingt, sitzen in meinem Film abgezählte fünf Leute. Dabei wird auch hier ausgiebig der Hammer geschwungen. Halt nicht von Chris Hemsworth, sondern von Joaquin Phoenix.
Es gibt Akteure, Mimen und Schauspieler. Und dann gibt es eine Kategorie von Männern, die nicht schauspielern, sondern einfach Präsenz zeigen. Wie eben Joaquin Phoenix. Sein müder, ausgebrannter Blick verrät, dass er schon viel zuviel von dieser grausamen Welt gesehen hat. Sein massiger, mit Narben übersäter Körper ist Schmerzen jeder Art gewöhnt. Joe ist ein Kriegsveteran, der sich als Privatdetektiv/Auftragskiller durchschlägt. Er hat sich darauf spezialisiert, entführte Kinder aus den Händen von Pädophilenringen zu befreien. Seine Auftraggeber wissen um Joes Verlässlichkeit - und wie brutal er sein kann. Wenn jemand leiden soll, schicken sie Joe mit dem Vorschlaghammer los.
Die schottische Regisseurin Lynne Ramsay hat mit dem abgründigen Psychodrama WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN für Aufsehen gesorgt. YOU WERE NEVER REALLY HERE - im deutschen Sprachraum sinnloserweise auf A BEAUTIFUL DAY umgetauft - ist Ramsays Version eines Großstadtthrillers.
Es dauert eine Zeit lang, bis man sich in den experimentell geschnittenen Bildern - Schlaglichtern aus dem Unterbewusstsein eines schwer traumatisierten Menschen - zurechtfindet. Ramseys Kino ist nicht massenkompatibel und schon gar nicht leicht verdaulich. Verstörungskino der brachialen Art eben, das dich herausfordern will. Aber eben nicht auf einer anstrengenden akademischen Ebene. Sondern dort, wo es ans Eingemachte geht, ans sprichwörtlich Fleischliche.
Wenn Joe den Hammer schwingt, wird es schnell unangenehm. Für die Schwerstkriminellen, die den Weg des bulligen Kriegsveteranen kreuzen sowieso, aber auch für die Zuseher im Kinosaal. Dabei vermeidet es die Regisseurin jedoch tunlichst, in pseudoprovokativen Splatter-Sauereien zu schwelgen. Die Gewaltexzesse finden weitgehend offscreen statt, werden in die Phantasie des Zusehers ausgelagert. Was die schroffe Härte dieses Films keineswegs abfedert.
Das Unfassbare an diesem Film ist ja, wie realistisch er wirkt. Trotz der experimentellen Schnitte und Bildkompositionen. Und der irren Musik von Radiohead-Gitarrist Johnny Greenwood, der nach PHANTOM THREAD erneut ein von der Masse übersehenes Meisterwerk von 2018 akustisch veredelt.
Im neuen Film der radikalen schottischen Regisseurin Lynne Ramsay (WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN) taumelt ein furchteinflößender Joaquin Phoenix durch ein abgründiges Thriller-Szenario. Ultrabrutal, visuell und akustisch Lichtjahre vom Mainstream-Einheitsbrei entfernt, wird hier der ganz schwere Verstörungs-Vorschlaghammer ausgepackt. Radikales Minderheitenprogramm, klar. Warum so etwas in beachtlicher Kopienanzahl in die Multiplexe geschickt wird, um dort vor leeren Sälen zu spielen, erschließt sich mir nicht ganz.