OT: 22 mei
DRAMA: B, 2010
Regie: Koen Mortier
Darsteller: Norman Baert, Titus De Voogdt, Sam Louwyck, François Beukelaers
Für Wachmann Sam beginnt ein Tag wie jeder andere: Aufstehen, Zähne putzen, anziehen, Brote schmieren, Kaffee in die Thermoskanne schütten und ab in Richtung Arbeitsplatz, ein kleines Einkaufszentrum irgendwo in einer Kleinstadt in Flandern. Die Monotonie wird jäh von einem lauten Knall zerrissen. Eine Bombe ist explodiert und zerfetzt Sam die Trommelfelle. Der Mann kann noch einige Schwerverletzte aus den Trümmern ziehen, bevor er im schweren Schock durch die Straßen rennt und erschöpft liegen bleibt. Dann sind die Straßen menschenleer. Und die einzigen Menschen, denen er begegnet, sind jene, die er gerettet hat.
Mit EX DRUMMER setzte der belgische Werbefilmer Koen Mortier 2007 ein Baby in die Welt, dem - durchaus wohlverdient - das Prädikat Skandal- bzw. Kultfilm umgehängt wurde. Der wüste Streifen, der eine talentfreie Punk-Band bei ihren tragikomischen Versuchen, ihrem tristen Underdog-Dasein zu entkommen, über die Schulter blickte und in einer Orgie aus Blut, Kotze und Sperma endete, erschien unter dem Banner des renommierten KinoKontrovers-Labels. Was die Erwartungshaltung an den Nachfolge-Film in lichte Höhen trieb.
Die gute Nachricht: Koen Mortier hat gar nicht erst den Versuch unternommen, seinen Erstling exzesstechnisch noch zu toppen. Was ohnedies ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen gewesen wäre. 22. MAI schlägt einen anderen, einen ruhigeren, nennen wir es meinetwegen einen erwachseneren Tonfall an. Ein existentielles Drama ist das geworden, das Fragen nach Schuld und Verantwortung erörtert.
Hat der Wachmann einen Fehler gemacht? Hätte der Anschlag verhindert werden können? Wie viel Verantwortung trägt der Einzelne für das Wohlergehen seiner Mitmenschen? Warum hat ausgerechnet der unachtsame, in sich und seine Probleme versunkene Mann überlebt? Hat er überhaupt überlebt? Was ist real? Was ist Einbildung, Projektion? Sehen wir hier gar eine filmische Jenseits-Vision? Einen Blick aus einem anderen Bewusstseinszustand?
Viele Fragen, keine eindeutigen Antworten. Dass sich der Film keiner linearen Erzählstruktur bedient, sondern in der Art, wie einem Gedanken kommen, hin und her springt, wird bei diesem Thema wohl niemanden verwundern.
Ist 22. MAI deshalb sprödes, unkonsumierbares Kopfkino? Selbstverständlich nicht. Auch wenn sich inhaltlich keine Gemeinsamkeiten mit EX DRUMMER ausmachen lassen, ist der Stil letztlich ein sehr ähnlicher. Auch Darsteller und Crew sind Veteranen aus dem Vorgängerfilm und sorgen für stilistische Kontinuität.
Der Film entwickelt einen visuellen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Atmosphärisch enorm dicht, stockdüster und beängstigend spannend kommt dieser Brocken von einem Schuld- und Sühne-Drama daher. Das - im Wortsinne - explosive Finale lese ich (und die zitierte Filmkritik am DVD-Cover ;-) als Hommage an Antonionis ZABRISKIE POINT. Auflösung gibt es aber keine, alle Fragen bleiben offen, der Film läuft im Kopf des Zusehers weiter. Ziemlich lange übrigens, ihr seid gewarnt ...
Vier Jahre nach dem "lustigen" Saubartel-Film EX DRUMMER zeigt sich der belgische Regisseur Koen Mortier inhaltlich und stilistisch gereift. 22. MAI ist ein bildgewaltiger, enorm dichter und ziemlich beängstigender Film, der anhand eines blutigen Attentats Fragen nach Schuld und Verantwortung erörtert, ohne konkrete Antworten zu geben. Die Quersumme aus Taxi Driver, Enter the Void und Zabriskie Point; ein forderndes, aber lohnendes Film-Ereignis, das ich gerne auf der großen Leinwand gesehen hätte.