KRIEGSDRAMA: USA/GB, 2019
Regie: Sam Mendes
Darsteller: Dean-Charles Chapman, George MacKay, Daniel Mays, Colin Firth
Nordfrankreich, im April 1917: Die Alliierten und die Deutschen liefern sich einen erbarmungslosen Stellungskrieg. In einer Nacht- und Nebelaktion haben sich die Deutschen plötzlich zurückgezogen, kilometerweit. Die Briten wittern die Chance auf den entscheidenden Angriff. Das alliierte Oberkommando befürchtet einen Hinterhalt. Eine ganze Armeeeinheit würde in den sicheren Tod geschickt. Mangelns funktionierender Telegraphenleitungen werden zwei einfache Soldaten, Corporal Blake und Schofield, durchs Niemandsland geschickt, um eine wichtige Nachricht zu überbringen. Eine scheinbar unmögliche Mission.
"Bei diesem Gegenstand komme ich auf die schlimmste Ausgeburt des Herdenwesens zu reden: auf das mir verhasste Militär! Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen, Heldentum und Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg. Ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun beteiligen! Ich denke immer so gut von der Menschheit, das ich glaube, dieser Spuk wäre schon längst verschwunden, wenn der gesunde Sinn der Völker nicht von geschäftlichen und politischen Interessen durch Schule und Presse systematisch korrumpiert würde."
(Albert Einstein: Wie ich die Welt sehe, 1930)
In Hollywood muss es ein ungeschriebenes Gesetz geben, wonach jeder bedeutende Regisseur einen großen Kriegsfilm drehen muss: Francis Ford Coppola: APOCALYPSE NOW (1979). Michael Cimino: THE DEER HUNTER (1978). Terrence Malick: THE THIN RED LINE (1998). Brian De Palma: THE CASUALTIES OF WAR (1989). Oliver Stone: PLATOON (1986). Steven Spielberg: SAVING PRIVATE RYAN (1998). Mel Gibson: HACKSAW RIDGE (2016). Clint Eastwood: FLAGS OF OUR FATHERS, LETTERS FROM IWO JIMA (beide 2006). Christopher Nolan: DUNKIRK (2017). Stanley Kubrick: PATHS OF GLORY (1957) und FULL METAL JACKET (1987).
Auch der britische Film- und Theaterregisseur Sam Mendes (AMERICAN BEAUTY, SPECTRE, SKYFALL) hat bereits einmal Kriegsluft am Set geschnuppert: Mit dem Irakkriegs-Drama JARHEAD (2005). Ich denke, nach 1917 dürfte es eigentlich keinen weiteren Kriegsfilm mehr geben. Ich wüsste nicht, wie man diese unglaublich intensive Erfahrung, die sich ausschließlich im Kino, auf der größtmöglichen Leinwand entfalten kann, noch irgendwie toppen könnte. Ein intensiveres Kinoerlebnis als 1917 ist eigentlich nicht mehr vorstellbar.
Der Film beginnt mit einem Moment der trügerischen Idylle: Ein Trupp Soldaten ruht sich auf einer grünen Wiese aus. Es herrscht Ruhe an diesem Frontabschnitt. Zwei Männer, Corporal Blake und Schoffield, werden geweckt. Sie glauben an einen einfachen Auftrag, vielleicht Lebensmittel aus dem Hinterland zu den kämpfenden Truppen zu transportieren. Stattdessen werden sie auf ein Himmelfahrtskommando geschickt, um möglicherweise 1600 Männer vor dem sicheren Tod zu bewahren.
Und dann geht es los: Durch Stacheldrahtverhaue und schlammige Mondlandschaften, vorbei an Bombenkratern, stinkenden Tierkadavern und von Ratten angefressenen Leichen, über zerstörte Brücken, durch Ruinenlandschaften und verbrannte Dörfer: Die Kamera heftet sich an ihre Fersen, umkreist sie, nimmt ihre Perspektive ein. Es sind die unglaublichen Bilder von Kamera-Magier Roger Deakins, die den Zuseher geradewegs ins Geschehen einsaugen und die Hölle der Kriegserfahrung bildlich spürbar machen.
Aber lassen wir den Regisseur selbst zu Wort kommen: "1917 sollte sich mal subjektiv anfühlen, mal objektiv, manchmal ist man sehr eng mit den beiden Hauptfiguren verbunden, dann sieht man sie wieder ganz klein in der ungeheuren Weite der Landschaft. Manchmal sieht man, was sie anschauen, dann wieder wie sie reagieren, aber nicht worauf. Dazu kommt die unablässige Bewegung der Kamera. Wir wollten keine Regeln befolgen, sondern instinktiv entscheiden, was richtig ist. Auch Sound und Musik haben wir so eingesetzt: Phasenweise ist der Film sehr leise, weil ich wollte, dass er ein- und ausatmet und nicht immer atemlos auf einen Punkt zutreibt. Bei all diesen Entscheidungen geht es darum, den Zuschauern ein Erlebnis zu bieten, das sie ins Kino lockt."
(Sam Mendes in einem Interview für "Die Zeit").
"Nicht nachdenken! Das führt zu nichts!", bekommen die beiden jungen Männer - sensationell: Dean-Charles Chapman und George MacKay - einmal von einem Vorgesetzten zu hören. Au contraire. Man kann gar nicht aufhören, über diesen Film nachzudenken, in dem es um nichts Geringeres geht als das, was gelehrte Geister die Conditio Humana, also den Zustand der Menschheit nennen. Krieg, das ist nicht die "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", sondern das totale Systemversagen, die Bankrotterklärung jeglicher Politik. Krieg, das ist nackte Angst, unendliches Leiden, zerfetzte, in Stücke gerissene, von Ratten angefressene Körper.
So pathetisch das auch klingen mag: Nach diesem Film kann man nichts anderes empfinden als große Dankbarkeit, in einem Teil der Erde geboren zu sein, der in Wohlstand und Frieden lebt. Dank eines politischen Großprojektes namens Europäische Union, die - das sollte man sich hin und wieder ins Bewusstsein rufen - uns die längste Friedensperiode der Menschheitsgeschichte beschert.
Wo man sich den eigentlich total paradoxen Luxus erlauben kann, den Krieg als virtuelles Kunstprodukt zu erleben, in zu Palästen ausgebauten Kinosälen, mit bequemen Sitzen, fussballfeldgroßen Leinwänden und unglaublichen Soundsystemen.
PS: Die Höchstnote wird nur ganz knapp verfehlt - weil offenbar auch der ambitionierteste (Anti-)Kriegsfilm nicht ganz ohne falsches Heldenpathos auszukommen glaubt.
Sam Mendes (Regie) und Roger Deakins (Kamera) schleifen das Publikum durch das Grauen des ersten Weltkriegs. Ich glaube, etwas Intensiveres als 1917 hat es im Kino noch nicht gegeben. Weniger ein Film als eine körperliche Erfahrung. Wer auch nur einen Hauch von Liebe zum Kino verspürt, sieht den Film auf der großen Leinwand.