OT: Irréversible
DRAMA/EXPERIMENTALFILM: FRANKREICH, 2002
Regie: Gaspar Noé
Darsteller: Monica Bellucci, Vincent Cassel, Albert Dupontel, Jo Prestia
Die bildschöne und aufreizend gekleidete Alex (Monica Bellucci) geht mit ihrem neuen Freund Marcus (Vincent Cassel) und ihrem Exmann Pierre (Albert Dupontel) in Paris auf eine Party. Als sich Marcus dort völlig zukokst und mehr um andere Frauen als um Alex kümmert, verlässt diese vorzeitig den Ort. In einer Straßenunterführung wird sie Zeugin, wie ein Zuhälter (Jo Prestia) sich mit einer transsexuellen Prostituierten streitet, um kurz darauf selber von dem Mann angefallen, brutal anal vergewaltigt und ins Koma geschlagen zu werden.
Als Marcus und Pierre ein wenig später ebenfalls die Party verlassen, gelangen sie an den Tatort und sehen, wie Alex mit einem völlig verstörten Gesicht von Sanitätern auf einer Bahre davongetragen wird. Durch einen Hinweis zweier zwielichter Gestalten gelangen sie auf die Spur des Zuhälters "El Tenia" (der Bandwurm). Ihre nächtliche Suche nach dem Übeltäter führt sie in den Schwulen-SM-Klub "Rectum", wo sie verzweifelt nach El Tenia suchen, da insbesondere Marcus Alex um jeden Preis rächen will ...
VORSICHT- SIE BETRETEN DIE GEFAHRENZONE:
DIESE KRITIK IST EIN EINZIGER GROSSER SPOILER ! ! !
... und in diesem Klub folgt das eruptive Finale von IRREVERSIBEL: Marcus und Pierre spüren einen Mann auf, den sie für El Tenia halten. Doch Marcus' grenzenlose Aggression schlägt sofort auf ihn zurück: Der Mann wirft ihn zu Boden, bricht ihm brutal den Arm und beginnt ihn anal zu vergewaltigen. Daraufhin greift sich der zuvor eher besonnener erscheinende Pierre einen Feuerlöscher und schlägt damit so lange auf den Kopf des Aggressors ein, bis dieser nur noch eine undefinierbare breiige Masse ist. - Das Ganze ist in einer ungeschnittenen, statischen, einen größtmöglichen Realismus erzeugenden, Einstellung gefilmt...
Und damit beginnt der Film!!! - Denn wie der zwei Jahre zuvor erschienene MEMENTO (2000) von Christopher Nolan, läuft auch Gaspar Noés zweiter Spielfilm IRREVERSIBEL aus dem Jahre 2002 in chronologisch umgekehrter Reihenfolge ab. Wir sehen also immer zuerst die Auswirkungen bestimmter Aktionen, bevor uns der Grund für die (oftmals extrem drastischen) Handlungen gezeigt wird. Verbunden werden die einzelnen, in sich vorwärts laufenden Handlungssegmente durch einzelne, durch Benoît Debies´ völlig entfesselte, unaufhörlich kreisende Kamera erzeugte Zeittunnel.
Gaspar Noé treibt dieses zunächst rein formale Spiel konsequenterweise so weit, dass der Film sogar mit dem Abspann beginnt. Zusätzlich sind auch noch einzelne Buchstaben innerhalb des Textes spiegelverkehrt. Dann beginnt der Textblock selber während des Ablaufens der Credits nach rechts wegzukippen und stimmt den Betrachter somit schon mal auf die folgenden kreisenden Kamerabewegungen, den Blick eines allwissenden und alles sehenden Erzählers, ein.
Bei einem zeitlichen Abstand von fast 10 Jahren zur Entstehungszeit von IRREVERSIBEL sind dem Betrachter solche Spielereien mit dem zeitlichen Ablauf eines Films natürlich wesentlich vertrauter, als zur Zeit seiner Premiere in Cannes. Inzwischen ist es gerade auch innerhalb des Mainstreamkinos zu einem geradezu inflationär angewandten Kniff geworden, eine an und für sich oft banale Handlung durch eine durcheinandergewirbelte Chronologie im Handlungsablauf scheinbar interessanter zu gestalten.
Und auf den ersten Blick scheint auch IRREVERSIBEL diesem Muster zu folgen. Denn wenn man sich all die technischen Kniffe, das Spiel mit der umgekehrten Chronologie und die beiden extrem drastischen Gewaltszenen einmal weg denkt, dann bleibt von diesem Film tatsächlich fast nichts mehr übrig. - Aber dies ist eben nur das Ergebnis, das sich bei einem sehr oberflächlichen ersten Blick ergeben mag. Denn IREVERSIBEL ist einer der bis heute sehr raren Filme, bei denen das Spiel mit der Chronologie der Ereignisse tatsächlich zu einem Mehrwert führt, den der Film auf andere Weise gar nicht hätte erzielen können.
Auf sein reines Handlungsskelett reduziert - und viel mehr als ein solches ist in IRREVERSIBEL auch tatsächlich gar nicht vorhanden, ist dies nicht viel mehr als ein ziemlich banales Rape&Revenge-Movie nach Schema F. Dazu passt auch die zweite, noch drastischere Szene des Films: die fast zehnminütige in Nahaufnahme und erneut ungeschnitten gezeigte brutale Vergewaltigung von der durch Monica Bellucci verkörperten Alex. Doch gerade diese Szene, die gleich im mehrfachen Sinne das wahre Herzstück des Films bildet, zeigt ganz eindeutig, dass Gaspar Noé mit IRREVERSIBEL nicht wirklich vorrangig einen narrativen Film erschaffen wollte.
Denn ebenso wie in der Szene im "Rectrum" zielt auch hier die gesamte Inszenierung eindeutig darauf ab, jede mögliche Distanz zum Geschehen vollkommen zu verunmöglichen und uns stattdessen soweit, wie nur irgendwie möglich quasi physisch in die Charaktere eintauchen zu lassen. Und gerade auch deshalb sind diese beiden Szenen von einer kaum erträglichen Intensität. So werden wir durch die während der Szene im Schwulen-Klub unaufhörlich im Raum umherirrende subjektive Kamera selbst zu den Protagonisten, und erleben im wahrsten Sinne des Wortes hautnah deren mehr als zweifelhaftes Tun.
Dieses Gefühl der tatsächlich körperlichen Nähe wird in der Vergewaltigungsszene auf die absolute Spitze getrieben. Dort sehen wir sowohl den Täter und sein Opfer in größtmöglicher Nähe in einer statischen Unteransicht und werden in der fast zehnminütigen Szene nicht nur Zeugen, sondern quasi Mittäter bei der unerbittlichen körperlichen und seelischen Erniedrigung und letztendlich Fast-Vernichtung von Alex. Aber auch damit ist es noch nicht genug: Diese Fußgängerunterführung ist nicht der gewöhnliche, kahle, graue und verwahrloste Ort, wie wir in aus fast jeder Großstadt kennen. Stattdessen ist gerade dieser Handlungsplatz extrem stilisiert und gerade das für solch eine Unterführung ungewöhnliche rote Licht rückt diesen deutlich in die Nähe des zu Beginn gezeigten SM-Klubs.
Es war die Kritikerin Leslie Felperin, die in ihrer Besprechung von IRREVERSIBEL in "Sight and Sound" zuerst darauf hinwies, dass der gesamte Film eine geradezu sadomasochistische Beziehung zum Betrachter aufbaue. Ihr zufolge bedeute diesen Film anzusehen, automatisch sich ihm zu unterwerfen. Und selbst sie als Frau könne trotz aller bewussten moralischen Abscheu nicht vermeiden, gerade bei dieser Vergewaltigungsszene zugleich eine Art von sadomasoschistischer Anziehung zu empfinden. Und vielleicht ist es gerade dieses heimliche Potential von IRREVERSIBEL, uns ansonsten niemals bewusst eingestandene Impulse spüren zulassen, die dafür sorgen, dass uns dieser Film so sehr mitnimmt, uns einerseits schockiert, aber zugleich auch fasziniert.
Und noch einmal zurück zum Prinzip der zeitlichen Inversion: Während die drastische Darstellung einer Vergewaltigung in einem Film vom Schlage eines LAST HOUSE ON THE LEFT (1972) als Erklärung bzw. als Vorwand für die nun gerechtfertigt erscheinen, folgenden, ebenfalls extrem drastischen Racheakte herhalten muss, lässt sich ein solcher Zusammenhang in IRREVERSIBEL nicht mehr zufriedenstellend herstellen. Da wir bereits zu Beginn Zeuge des finalen Racheaktes werden, fehlt uns dessen innere Legitimation. Und als der Film dann in seiner Mitte endlich das auslösende Moment zeigt, haben wir bereits so viele irritierende zusätzliche Informationen erhalten, dass die Dinge im Nachhinein sogar noch schlimmer und ungerechtfertigter erscheinen, als zuvor.
Und genau darauf zielt Gaspar Noés "Spiel" mit der Umkehr der zeitlichen Reihenfolge ab: Obwohl der Film gegen Ende - also am chronologischen Anfang - scheinbar einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen beginnt, wird hier nie wirklich etwas besser, sondern ganz im Gegenteil alles immer nur noch schlimmer. So werden uns die Protagonisten, insbesondere Marcus, mit der Zeit nicht wirklich sympathischer. Hatte man zu Anfang noch vermutet, dass dieser wahrscheinlich einen triftigen Grund für seinen Quasi-Amoklauf im "Rectrum" haben muss, so wird im Verlaufe der Handlung immer deutlicher, dass gerade ihn eine - wenn auch indirekte Mitschuld - an der katastrophalen Entwicklung der Ereignisse trifft.
Aber auch die zum Schluss gezeigte Idylle bekommt weit mehr als einen fahlen Beigeschmack, da wir zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, dass diese mit der Zeit vollkommen zerstört werden wird. Doch auch vor dem Anfang der Geschichte gibt es einen weiteren Anfang. Da verwandelt sich das Idyll im Grünen in einen wilden Wirbel, um sich schließlich in ein reines Stroboskopblitzen aufzulösen. Und in diesem reinen Pulsieren erscheint bzw. entsteht eine Galaxie, unsere Milchstraße, von der wir inzwischen wissen, dass sie, wie auch das gesamte Universum, irgendwann einmal wieder in sich selbst zusammenstürzen wird. Und da erscheint es dann auch nicht mehr als eine banale Plattitüde, wenn sich ganz zum Schluss ein letzter agitatorischer Satz in den Bildschirm brennt: "LE TEMPS DESTRUIT TOUT" - Die Zeit zerstört alles!!!
SIE VERLASSEN JETZT DIE GEFAHRENZONE: SPOILERENDE ! ! !
IRREVERSIBEL ist ein Film wie ein Wirbel unerbittlicher Schläge ins Gesicht des Betrachters, ist ein provokatives Meisterwerk reinen Kinos, ist ein gleichermaßen abstoßendes, wie faszinierendes filmisches Experiment, ist ein Film, den man keineswegs mögen muss, denn man jedoch unmöglich ignorieren kann, ist ein Film, den man einmal gesehen haben muss, aber nicht so schnell wieder sehen wollen wird, ist ein Film, der wenn man ihn trotz allem dann doch noch ein weiteres Mal sieht, nur weiter an Faszination gewinnt.
Wer den Selbst-Versuch wagen will: IRREVERSIBEL ist soeben in einer Neuauflage bei Universum erschienen ...