OT: Slumdog Millionaire
DRAMA: USA/GB/IND, 2008
Regie: Danny Boyle
Darsteller: Dev Patel, Anil Kapoor, Saurabh Shukla, Rajendranath Zutshi
Jamal sitzt als Gast bei der indischen Ausgabe von "Wer wird Millionär" auf dem Stuhl und ist noch eine Frage von dem Hauptgewinn entfernt.
Wie konnte er jede Frage bisher beantworten?
A: Er hat betrogen
B: Er hatte Glück
C: Er ist ein Genie
D: Es ist Schicksal
Nach Preisträgern wie L.A. Crash oder A Beautiful Mind ist die Glaubwürdigkeit des Oscars in den letzten Jahren stark gesunken. Dass nun Slumdog Millionär gleich achtmal prämiert wurde, könnte man zunächst als schlechten Scherz und qualitative Einordnung verstehen, ist es doch gerade dieser Stoff, den die Academy Award-Mitglieder fragwürdigerweise nur allzu oft mit einer Auszeichnung zu huldigen wissen. Doch ganz im Gegenteil: Danny Boyles neuster Film ist weit davon entfernt, einen sentimentalen Ton anschlagen zu müssen und vermag auch ganz frei von jeglicher Holzhammerdramatik als mutigen und ebenso originellen Konglomerat aus Drama und Romanze zu funktionieren, sodass sich die Distanz zum klassischen Hollywoodkino definitiv bezahlt gemacht hat.
Außerdem kristallisiert sich schon in der ersten Szene heraus, dass Slumdog Millionär kein Film der Sorte ist, die krampfhaft versuchen, einem diffizilen Thema in Gänze gerecht zu werden. Stattdessen setzt Boyle auf eine beispielhafte Geschichte und tut gut daran, mitnichten auf die guten, alten Moralpredigen zurückzugreifen.
In dieser Szene sehen wir zunächst einen fettleibigen Bullen mit kreisrundem Pfannekuchenantlitz den jungen Jamal mit Hilfe von Elektroschocks malträtieren, in der Hoffnung, dass dieser nach harter Folter endlich Rede und Antwort steht. Der Grund dafür ist, dass Jamal bei der indischen Ausgabe von "Wer wird Millionär" vor der 20 Millionen Rupien- Frage steht und verdächtigt wird, betrogen zu haben, weil er in so schlechten Verhältnissen aufgewachsen ist, dass es ihm niemals möglich war, eine Schulausbildung zu genießen und er die Antworten gar nicht hätte wissen können.
So blicken die beiden Polizisten nach erfolgloser Gewaltanwendung misstrauisch auf Jamal herab. Jamal hat keine Ahnung von den Dingen, die die Polizisten von ihm wissen wollen, weil er kein Betrüger zu sein scheint. Diese in der Gegenwart datierte Szene nutzt Boyle schließlich als Grundlage für die Erzählung, um so rückblickend Szene für Szene Einblick in die Kindheit von Jamal liefern zu können und gleichzeitig trotzdem immer auch von der Absurdität - indem der Film in jeder Szene auch vom Zufall erzählt, durch den Jamal an die richtige Antwort gelangt ist -, der eigenen Geschichte handelt.
Trotz überwiegend enthusiastischer Kritik, musste Boyle allerdings auch einige harte negative Meinungen einstecken können. Da wurde der Film gerne mal als ästhetisierend, verharmlosend oder beschönigend verteufelt. Totaler Bullshit. Slumdog Millionär ist weit davon entfernt, überhaupt zu intendieren, die Realität zu zeigen und erzählt hingegen, sozusagen, von sich selbst. Das ist natürlich legitim, schließlich ist seine Geschichte dennoch in der Wirklichkeit angesiedelt. Er stellt nur keine Thesen auf oder fällt Urteile, genauso wie der Film auch nur auf den ersten Blick dem unsäglichen CITY OF GOD ähnelt: Fernando Meirelles mag sich der Problematik gewiss ebenso mit einer beispielhaften Geschichte genähert haben, doch sein Film, und das ist der wichtige Unterschied, will das zeigen, was sich in der Realität abspielt, Tag für Tag, Woche für Woche. Damit bricht er sich das Genick, weil das eigentlich Wichtige schnell zur Nebensache verkommt und immerzu die Wandlung von Buscape und Konsorten im Focus steht.
De facto ist es dann völlig richtig, wenn Andreas Berger in seiner Kritik zu Slumdog Millionär festhält, dass "die Realität als solches nicht gezeigt" werde. Das klingt bewusst so, als wäre das etwas Schlimmes. Muss man wenn überhaupt denn die Realität "als solches" darstellen? Meines Erachtens liegen gerade darin der Mut und die Stärke von Slumdog Millionär, dass Danny Boyle so innovativ ist und den Willen zeigt, neue Wege einzuschlagen und sich seinem Vorhaben eben nicht verkrampft und reaktionär annimmt.
Boyle erzählt diese Geschichte auf mehreren Ebenen anhand einer Dreier-Konstellation: Neben dem cleveren und immer etwas zurückhaltend auftretenden Jamal und seinem etwas älteren Bruder Salim, verbringen sie in der Kindheit ihre Zeit oftmals mit der hübschen, gleichaltrigen Latika, deren Bekanntschaft Jamal und Salim schon früh während der immerzu herrschenden Bürgerkriege machen. So zufällig sie sich kennen gelernt haben, so plötzlich trennten sich ihre Wege aber auch wieder: Stellte sich Salim damals in die Dienste eines bedeutenden Drogen-Dealers, für den er zum gewissenlosen Mörder wurde, gelangt auch Latika in die Hände bedrohlicher Gangster, die sie zur Prostitution nötigten. Seit sie früher gemeinsam aus der Gefangenschaft entkommen sind, ist Jamal immer noch in Latika verliebt und hofft auch Jahre später noch, sie endlich wieder zu treffen.
Besonders glücklich ist im Nachhinein auch die Wahl von Danny Boyle als Regisseur. Schon in den letzten Jahren war der Engländern durch seine flexible Regie und mit seinen exotischen Filmen aufgefallen. Sowohl in punkto Narration als auch bei der Inszenierung erweist sich seine straffe Regie stets als passend. Aber Slumdog Millionär ist nicht nur aufregend und fesselnd erzählt, sondern hat auch eine verblüffende Bildgewalt. Schon in der ersten Rückblende profiliert sich die mutige und genauso unkonventionelle Optik. Da sehen wir zunächst kleine, unschuldige Kinder sich durch die engen Gassen der Slums schlängeln. Sie flüchten vor der irgendwelchen, nicht näher definierten Männern. Ein Dauerzustand für die Kinder, die hier aufwachsen. Man könnte dies aber auch als Metapher für die endlose Flucht vor dem Leben in diesen Verhältnissen verstehen. Während die Kamera eigentlich nur die flüchtenden Jungen zu verfolgen scheint, erhaschen wir, wenn auch nur für wenige Zehntelsekunden, die grausamsten Bilder. Hier leben die Menschen in ihrem eigenen Dreck und eigenen Fäkalien; da spielen kleine Kinder in den vergifteten Abwässern zwischen den Müllsäcken mit Bällen; es ist das reinste Horrorszenario, das da über uns so unvorbereitet und unverkennbar in schrillen, bizarren Farben herein bricht.
Auch wenn der Film leider im letzten Drittel etwas abzufallen droht, weil sich mir der Focus zu sehr auf die Liebesgeschichte von Jamal und Latika verschiebt, ist Slumdog Millionär auch wegen dem bahnbrechenden visuellen Overkill und dem intelligenten Erzählstil ein Wechselbad der Gefühle. Boyle spielt dabei förmlich mit den verschiedenen Genres - ist man gerade noch zutiefst empört über die Unmenschlichkeit des Alltags, ist die nächste Szene schon wieder so herzergreifend anrührend menschlich. Die schlimmste und ehrlichste Sequenz zugleich ist die, in der uns der Film ungeschminkt mit dem Prozedere des Blendens überfällt. Da werden frei von jeder Gnade die Kinder aller Altersstufen verstümmelt - für einige Zuschauer in meinem Kino Grund genug, vor der "Realität" zu flüchten und das Kino zu verlassen.
In Slumdog Millionär reicht also jenes Bild, das der Wirklichkeit entnommen sein könnte, weil solche Bilder für uns meisten Europäer in der Regel etwas Ungewohntes und deshalb auch Unvergessliches darstellen. Man verlässt das Kino und es bleibt die Assoziation - und natürlich die Hoffnung, die dieser Film, besonders durch die Liebesgeschichte, von der ich möglichst wenig vorweg nehmen möchte, transportiert.
Diese angesprochene erste Rückblende findet kein Ende im eigentlichen Sinn, sondern projiziert in seiner letzten Einstellung vielmehr ein sehr ehrliches Bild der Slums auf die Leinwand: Mit dem Blick von oben aus der Vogelperspektive wird klar, dass diese Flucht kein Ende finden wird: Kilometer weit erstrecken sich die Schrottbauten und Blechhüten über das Land, während sich ein Bungalow neben den nächsten reiht. Ein unvergessliches Bild - wer könnte da noch behaupten, Danny Boyle nutze das Sujet nur als Aufhänger?
Slumdog Millionär ist das Werk eines Filmemachers, der sich heute noch traut, neues auszuprobieren, Ungesehenes sehbar zu machen - eine der großen Hoffnungen für die nächsten Jahre in der Filmwelt. Während sein neuster Film, weil sowohl großartig inszeniert als auch erzählt, viele Gemüter bedient wird, ist es vor allem aber auch ein wichtiger Film geworden: Danny Boyle versteht es zu jeder Sekunde den Spagat zwischen Erzählkino und Themenverarbeitung mit Bravour zu meistern. Unbedingt sehenswert!